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Schuften für Billig-UrlaubIn der Türkei nimmt die Ausbeutung im Tourismussektor zu

4 min
Antalya: Touristen besuchen den Strand von Antalya.

Antalya: Touristen besuchen den Strand von Antalya.

Die Türkei erlebt sinkende Touristenzahlen. Deutsche Urlauber bleiben wegen hoher Preise fern. Arbeitskräften wurde nun der einzige freie Tag gestrichen.

Neue Rekorde im Tourismus strebt die Türkei für dieses Jahr an, doch stattdessen fallen die Besucherzahlen. Vor allem die deutschen Urlauber bleiben weg, ihre Zahl sank im Mai um fast 20 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Die Touristen würden von gestiegenen Preisen in der Türkei abgeschreckt, befürchtet die Branche.

Um die Kosten zu senken und dem Personalmangel zu begegnen, ließen Regierung und Arbeitgeber sich jetzt etwas einfallen: Den Arbeitern und Angestellten im Tourismus wird der einzige freie Tag in der Woche gestrichen. Gewerkschaften und Arbeitsrechtler beklagen eine „Legalisierung der Sklaverei“.

Trotz Tagesrekord sinken deutsche Touristenzahlen

Fast genau hunderttausend Urlauber landeten am vergangenen Samstag in Antalya, wie Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy mitteilte: ein neuer Tagesrekord für die Jahreszeit. Der türkische Tourismus werde mit jedem Jahr stärker, jubelte Ersoy, doch seine Zahlen stützen das nicht. Nach einem Zuwachs von fast zehn Prozent im vergangenen Jahr schrumpfte die Zahl ausländischer Touristen in diesem Jahr um ein Prozent, und die Tendenz ist weiter rückläufig: Im Mai betrug der Rückgang fast zwei Prozent.

Die Zahl der deutschen Touristen fiel in dieser Zeit um gut 18 Prozent zurück. Die Deutschen, im vergangenen Jahr noch Spitzenreiter, landeten damit auf Platz zwei hinter den russischen Urlaubern.

Tourismusunternehmer rufen nach Arbeitsrechtsänderungen

Schuld seien die gestiegenen Preise, argumentieren Tourismusmanager: Wegen der türkischen Inflation von derzeit 35 Prozent, steigender Steuern etwa auf Alkohol und einer Überbewertung der Lira verliere die Türkei ihren Preisvorteil gegenüber anderen Tourismusländern am Mittelmeer. Wenn die Türkei ihr Image als Billig-Urlaubsland verspiele, erleide der Sektor bleibenden Schaden, warnte Mehmet Isler, Vizevorsitzender der Hotel-Föderation, im Wirtschaftsportal Ekonomim. Die Regierung erhörte die Klagen der Tourismusunternehmer. Die Lira abwerten will sie nicht, dafür änderte sie – auf Vorschlag der Unternehmerverbände – das Arbeitsrecht.

Mit der Gesetzesänderung, die diese Woche in Kraft trat, werden Beschäftigte im Tourismus von dem gesetzlichen Anspruch auf einen freien Tag in der Woche ausgenommen, den Arbeitnehmer in der Türkei normalerweise haben. Stattdessen sollen sie nun zehn Tage am Stück arbeiten, bevor sie ihren freien Tag bekommen. „10+1“ heißt das Modell in der Branche, es löst die bisherige „6+1“-Regelung ab. Für den bisher freien siebten Wochentag, der nun durchgearbeitet wird, bekommen die Arbeitnehmer laut der Neuregelung keine Überstundenzahlung. „10+1“ schaffe Erleichterung und Flexibilität für die Arbeitgeber und sei auch im Interesse der Beschäftigten, weil sie dadurch an wechselnden Tagen freinehmen, freie Tage zusammenlegen und sich dadurch auch einmal zwei Tage hintereinander freinehmen könnten, sagte Müberra Eresin, Vorsitzende des Hotelier-Verbands Tursob, dem Nachrichtenportal Haber Turk. Nach ihren Angaben setzten sich die Unternehmerverbände seit zwei Jahren für diese Neuregelung ein, bis sie letzte Woche – gegen den Protest von Oppositionsabgeordneten – vom Parlament verabschiedet wurde.

Kritik von Gewerkschaften und Arbeitsrechtlern

Gewerkschaften und Arbeitsrechtler laufen Sturm. Die Neuregelung greife das Recht auf Ruhezeiten als „eines der grundlegendsten Rechte im Arbeitsleben“ an, erklärte Arzu Cerkezoglu, die Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes Disk. Obendrein solle es nicht einmal Überstundenvergütung für die zusätzliche Arbeitszeit geben. „Anders ausgedrückt: Arbeitnehmer arbeiten an ihrem wöchentlichen Ruhetag, erhalten aber keinen Zuschlag.“

„Damit ist die Sklaverei im Tourismus komplett“, schrieb der Arbeitsrechtler Aziz Celik, Professor an der Universität Kocaeli, auf X. Ebenso wie die Gewerkschaften wies Celik darauf hin, dass eine frühere Gesetzesänderung es Arbeitgebern bereits erlaube, die tägliche Arbeitszeit für eine Dauer von bis zu vier Monaten auf elf Stunden zu verlängern. „Mit dieser Neuregelung geht der Tourismussektor also zur Zehn-Tage-Woche mit Elf-Stunden-Tagen über.“

Verbindungen zwischen Regierung und Tourismusbranche

Das sei kaum erstaunlich „in einem Land, wo der Tourismusminister selbst Tourismusunternehmer ist“, fügte Celik hinzu. „Der Chef wünscht flexible und unregulierte Arbeit.“

Tatsächlich besitzt Tourismusminister Ersoy mehrere Hotels und eine Reiseagentur. Die Gewerkschaften sind dagegen im Tourismus besonders schwach, weil die Branche vorwiegend Saisonarbeiter beschäftigt, die im Herbst wieder auf die Straße gesetzt werden. Der Organisationsgrad im Tourismussektor liegt nach Angaben der Tourismusgewerkschaft Dev-Turizm bei 3,5 Prozent. „Wenn ein Beschäftigter der Gewerkschaft beitritt, wird er vom Arbeitgeber rausgeworfen“, sagte Mustafa Yahyaoglu, früherer Vorsitzender von Dev-Turizm und heute Vorsitzender des Vereins der Tourismus-Beschäftigten, unserer Redaktion.

Ihr Gewerkschaftsverband werde vor dem Verfassungsgericht gegen die Gesetzesänderung klagen, kündigte die Disk-Vorsitzende Cerkezoglu an, denn die Neuregelung verstoße gegen die Verfassung und mehrere internationale Abkommen. „Das betrifft nicht nur die Tourismusbeschäftigten, sondern alle Arbeitnehmer im Land“, erklärte sie – denn schon jetzt forderten Unternehmer im Bausektor, das neue System auch im Bau anzuwenden.