VCI-Hauptgeschäftsführer Große Entrup mahnt die Politik zum Handeln. Im Interview äußert er sich über seine Sorgen angesichts der angespannten Lage in Deutschland.
Weckruf aus der Chemieindustrie„Die De-Industrialisierung in Deutschland läuft“

Leverkusen: Die Lichter des Chemparks in Leverkusen spiegeln sich im Wasser des Rheins.
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Die Chemieindustrie schlägt Alarm. „Die Lage ist extrem angespannt“, sagt Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), der 2300 Unternehmen mit mehr als 560.000 Beschäftigten vertritt. Mit Sorge betrachtet er, dass sich Hersteller aus Deutschland zurückziehen. Er befürchtet zudem, dass der deutsche Markt abgeschnitten werden könnte, sollten globale Konflikte eskalieren.
Herr Große Entrup, in der deutschen Chemieindustrie kommt dieser Tage einiges zusammen. Branchenriesen wie BASF und Covestro haben ihre Ergebnisprognosen gesenkt, auch Evonik ist deutlich pessimistischer als noch vor Wochen. Was ist da los?
Generell lässt sich sagen: Die Lage ist extrem angespannt. Für unsere Branche war die erste Jahreshälfte ein echter Stresstest. Die Auftragslage ist mau, die Produktion liegt deutlich unter dem Niveau des Vorjahres. Investitionen liegen auf Eis. Viele Unternehmen warten ab.
Woran liegt das?
Ein großes Problem ist der Auftragsmangel: Gut 40 Prozent der Unternehmen klagen laut unserer aktuellen Verbandsumfrage darüber. Kein Wunder: Schauen Sie sich die Situation in bedeutenden Kundenbranchen wie Automobil, Bau oder Elektro an. Es hapert überall an Aufträgen – ohne Aufträge von unseren Kunden keine Produktion. Die Auslastung der Anlagen liegt bei 80 Prozent und damit unter der Rentabilitätsschwelle – und das bereits im dritten Jahr in Folge. Es wird immer schwieriger, hierzulande wettbewerbsfähig zu produzieren. Das lässt sich auch an unserer Handelsbilanz ablesen: Die Chemieexporte liegen unter dem Vorjahresniveau, die Importe sind hingegen um zwei Prozent gestiegen.
Lässt sich die Lage noch mit konjunkturellen Schwankungen erklären?
Es geht um mehr als die Konjunktur. Wir haben es mit einer strukturellen Standortkrise zu tun. International aufgestellte Unternehmen haben Standorte direkt in wichtigen Auslandsmärkten und können zumeist ausbalancieren – ein Mittelständler, der nur in Deutschland produziert, nicht.
Das heißt: Die Probleme sind aus Ihrer Sicht tiefgreifend – und verschwinden nicht von allein.
Genau. Wir brauchen sehr schnell kräftige und mutige Taten hin zu einer Wirtschaftswende. Ein großer industriepolitischer Wurf ist erforderlich. Es bleibt keine Zeit für Klein-Klein.
Die neue Bundesregierung von Kanzler Friedrich Merz (CDU) hat unlängst ihre ersten 100 Tage absolviert. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Aus Sicht der Chemie- und Pharmaindustrie ist die Bilanz gemischt. Wir sehen Schritte in die richtige Richtung – etwa mit Blick auf niedrigere Energiekosten und Steuern. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Von echtem Bürokratieabbau ist noch keine Spur. Der Druck auf die Unternehmen steigt von Tag zu Tag. Die Entlastungen kommen noch nicht an den Werktoren an.
Gerade erst haben sich zahlreiche Firmenchefs im Kanzleramt um Friedrich Merz geschart. Von der Initiative „Made for Germany“ sollte ein kraftvolles Signal für Investitionen in Deutschland ausgehen. Gut so?
Es ist richtig, dass wir uns mehr anstrengen müssen, um die Investitionen in Deutschland anzukurbeln. In unserer Branche stellen wir fest, dass sich gerade global aufgestellte Unternehmen die Frage stellen: „Wo investiere ich?“ Die Realität ist: Viele neue Anlagen entstehen außerhalb von Europa und Deutschland. Das müssen wir ändern. Der Anspruch, den Standort Deutschland zu stärken, darf kein bloßer Slogan bleiben. Unser Standort hat unglaubliche Qualitäten. Wir haben einen riesigen Binnenmarkt vor der Haustür – mit rund 500 Millionen Menschen, die kaufkräftig sind. Es gilt aber auch, die Chancen, die wir haben, besser zu nutzen.
Gerade am Standort NRW ist zu erkennen, dass sich große energieintensive Unternehmen von Aktivitäten trennen wollen. Evonik plant Verkäufe oder Ausgliederungen von Standorten. BP will sich von der Raffinerie in Gelsenkirchen-Scholven trennen. Unabhängig von den Beispielen: Ist in Deutschland eine De-Industrialisierung im Gange?
Wir sehen, dass sich Unternehmen zurückziehen, es gibt Stilllegungen und Verlagerungen. Ja, es stimmt: Die De-Industrialisierung läuft. Gerade Unternehmen, die Basischemie herstellen, stehen unter einem extremen Stress. Die gute Nachricht ist: Die Probleme, die wir am Standort Deutschland haben, sind weitgehend „Made in Germany“. Wir haben es also auch selbst in der Hand, die Probleme zu beheben.
Sie sind also optimistisch?
Ja. Wir setzen darauf, dass Friedrich Merz und Co. die Sanierung des Standorts dynamisch vorantreiben. Wir wollen, können und müssen das schaffen. Unser Eindruck ist: Es gibt viele Akteure in der deutschen Chemieindustrie, die in den Startlöchern stehen. Wir hören häufig: „Ja, wir sind bereit.“ Aber die Voraussetzung ist, dass sich Investitionen in Deutschland rechnen – nur dann lassen sie sich auch Investoren, Aktionären oder Eigentümern von Familienunternehmen erklären. Niemand rennt los, wenn der Weg voller Schlaglöcher ist. Konkret heißt das: Die Kosten in Deutschland müssen sinken, die Produktivität muss insgesamt wieder steigen.
Anfang Juli sind die Vorstandsvorsitzenden mehrerer großer NRW-Unternehmen – darunter Evonik, Covestro, Henkel, Eon, Hochtief und Thyssenkrupp – mit Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Brüssel gereist, um die „Wettbewerbsfähigkeit zu stärken“, wie es hieß. Hat sich seitdem etwas verbessert?
Vieles, was die Unternehmen unserer Branche belastet, kommt aus Brüssel. Es ist wichtig, das anzusprechen, damit sich etwas verändert. Vieles ist schon in den Köpfen der entscheidenden politischen Akteure angekommen, aber es müssen Taten folgen. Nochmals: Taten, keine weiteren Bekenntnisse zur Bedeutung der Industrie. Als VCI sind wird der festen Überzeugung: Die Industrieländer in Europa – neben Deutschland auch Frankreich, Italien, Polen und andere – müssen sich zusammentun und klar machen, dass wir derzeit industriepolitisch auf einem Irrweg sind. Wir brauchen gerade jetzt in Zeiten geopolitischer Krisen eine starke Chemieindustrie in Europa.
Befürchten Sie, dass der deutsche Markt von Chemie-Lieferketten oder bei Produkten der Pharmaindustrie abgeschnitten werden könnte, wenn globale Konflikte eskalieren?
Dieses Risiko ist real. Es wäre eine Hochrisiko-Strategie zu sagen, wir verlassen uns einfach darauf, dass alles auf dem Weltmarkt verfügbar ist. Während der Corona-Pandemie haben wir doch gesehen, wohin das führen kann. Wir müssen dafür gewappnet sein, dass sich im schlimmsten Fall auch Allianzen gegen uns bilden. Fakt ist, dass schon jetzt fast die gesamte Antibiotika-Produktion in Indien und China stattfindet, weil die Produktion in Deutschland meist nicht mehr rentabel ist. Wir sollten also die Basischemie, die wir hierzulande haben, nicht leichtfertig aufgeben. Von ihr hängt vieles in der gesamten Industrie ab und baut auf sie auf. Von Automobil bis Elektro, von Ernährung über Energie bis hin zur Rüstungsindustrie. Nur mit einer starken Chemie- und Pharmaindustrie bleibt unser Land erfolgreich.