Anschlag in Solingen 1993Genç: „An meinen traurigsten Tagen waren Deutsche bei mir“

Lesezeit 5 Minuten
Mevlüde Genc Brandanschlag

Mevlüde Genc hat zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte bei dem rassistischen Mordanschlag vom 29. Mai 1993 verloren.

Solingen – An der Wand hängt ein Bildschirm, genau gegenüber der ausladenden Couch im Wohnzimmer. Da, wo sich eine Familie gewöhnlich niederlässt, um fernzusehen. Doch dieses Gerät zeigt keine Filme. Es überträgt Live-Bilder von der Straße vor dem Haus, aufgenommen von Überwachungskameras. Sie fangen jedes Auto ein, das vorüberfährt, und jeden Passanten, der vorbeigeht. Familie Genç hat den Bildschirm stets im Blick.

25 Jahre sind vergangen seit jener Nacht, als deutsche Rechtsradikale in das frühere Haus der türkischen Familie in der Unteren Wernerstraße eindrangen, die Holztruhe im Flur in Brand steckten und ein Inferno auslösten, das fünf Menschenleben kostete. Der Brandanschlag von Solingen ging als eines der schwersten ausländerfeindlichen Verbrechen in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein. Danach fragten sich viele Türken, ob sie in Deutschland noch sicher seien.

Anschlag fordert fünf Tote, viele Verletzte

Mevlüde Genç ist heute 70 Jahre alt. Sie hat am frühen Morgen des 29. Mai 1993 zwei Töchter verloren, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Viele weitere Verwandte wurden lebensgefährlich verletzt. „Ich empfinde seit 25 Jahren denselben Schmerz. Jahre mögen vergehen, aber der Schmerz nicht. Er wird mich bis zum Grab begleiten“, sagt sie. Jeder Tag fühle sich gleich an: „Ich esse, es schmeckt mir nicht. Ich bin auf Reisen, es gefällt mir nicht. Diesen Schmerz wünsche ich niemandem.“

Mevlüde Genç hätte hassen können. Das Land und seine Menschen. Eine Justiz, die gegen die vier Täter überwiegend Jugendstrafen verhängte. Medien, die ihr Schicksal ausschlachteten, um Quoten und Auflagen zu steigern. Und Politiker, die manches versprachen, aber nicht alles hielten. Doch statt Hass predigt Genç Versöhnung, immer wieder spricht sie von Einigkeit und Brüderlichkeit. „Ich lebe seit 46 Jahren in Deutschland, ich wollte das Land nie verlassen. Ich liebe beide Länder: Deutschland und die Türkei. An meinen traurigsten Tagen waren Deutsche bei mir“, darunter Unbekannte, die ihr als Zeichen der Ehrerbietung und der Scham die Hand küssen wollten.

Mevlüde Genç lebt ein paar Monate im Jahr in der Türkei, die übrige Zeit in Deutschland. Im Wohnzimmer hängen Fotos türkischer und deutscher Politiker, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan neben Johannes Rau, dem verstorbenen Bundespräsidenten und Ex-NRW-Ministerpräsidenten.Noch nach dem Anschlag nahm Genç die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie bekam das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement gegen Rassismus. Die Kraft dazu habe sie in ihrem Glauben gefunden: „Ich bin gläubige Muslimin. Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, könnte ich so nicht reden. Man muss doch wie ein Mensch reden und sprechen.“

Bekir Genç musste 30 Mal operiert werden

Ihr großer Wunsch zum 25. Jahrestag war es, dass der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu im Landtag hätte auftreten können. Doch das lehnten die Fraktionen mehrheitlich ab, weil sie einen Wahlkampfauftritt des türkischen Politikers befürchten.Genç sagt: "Ich habe beide eingeladen, damit sie mein Leid teilen, es geht mir nicht um Politik. Ich frage mich, warum die Landtagsfraktionen so reagiert haben. Darüber bin ich sehr traurig." Auch einen Besuch des Bundespräsidenten hätten sie und ihr Mann Durmuç sich vorstellen können: "Johannes Rau war zu den Gedenktagen immer bei uns - auch als Bundespräsident", sagt er.

Zum 20. Jahrestag war der stellvertretende türkische Ministerpräsident und Justizminister Bekir Bozdag gekommen. Cavusoglu wird voraussichtlich bei der Gedenkfeier in Solingen eine Rede halten, in der Staatskanzlei empfangen.Der Beistand der Politiker bedeutet ihr viel. Als Mevlüde Genç sich daran erinnert, wie Armin Laschet einst als Integrationsminister an den Gräbern ihrer Kinder in der Türkei stand und ihr sein Beileid bekundete, bricht ihre Stimme.

Bekir Genç, der am Tag des Brandanschlages 15 Jahre alt war, schaut schnell zur Seite. Er mag nicht reden über das, was geschehen ist. Mit schwersten Verbrennungen wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. 30 Mal musste er sich danach operieren lassen. Die Hand zur Begrüßung zu reichen, fällt ihm schwer, sie versagt ihm den Dienst. 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen, darunter ein sechs Monate alter Säugling und ein dreijähriges Kind.

Mevlüde Genç spricht in ihrer Muttersprache

Drei der vier Täter zwischen 18 und 24 Jahren wurden zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren Haft verurteilt, der Älteste zu 15 Jahren. Wegen guter Führung wurden sie zum Teil vorzeitig entlassen. Dass die Täter frei sind, kann Genç nicht gut ertragen: "Ich empfinde es als Unrecht, dass die Täter vom Jugendstrafrecht profitiert haben und wieder auf freiem Fuß sind. Aber ich würde mir nicht erlauben, gegen das Recht zu sprechen."

Wenn Mevlüde Genç redet, macht sie keine Pausen. Sie muss nicht darüber nachdenken, was sie sagen will. Sie spricht in ihrer Muttersprache. In vielen Metaphern, wie die Dolmetscherin erläutert.Bundeskanzlerin Angela Merkel fragte Mevlüde Genç einst am Rande der Bundespräsidentenwahl, warum sie nicht Deutsch spreche. Sie habe geantwortet: "Ich habe sieben Kinder und noch den Haushalt gemacht. Wann hätte ich Deutsch lernen sollen?" Heute brauche sie es nicht mehr zu lernen. Sie habe Kinder, Schwiegerkinder, Enkel, die ihr helfen könnten. Das habe die Kanzlerin verstanden.

Enkelin will für ihre Oma Ernährung studieren

Eine ihrer Enkelinnen, die 18-jährige Özlem, sitzt am Ende der Couch. Sie macht gerade Abitur, möchte Ernährungswissenschaften studieren, weil beide Großeltern Diabetiker sind und sie ihnen beim Umgang mit der Krankheit hilft. Sie habe einen multinationalen Freundeskreis, sagt sie, für sie sei das Miteinander von Deutschen und Türken selbstverständlich.Ihre Großmutter hingegen stellt im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken Veränderungen fest, gerade in jüngster Zeit: "Hier leben fünf Millionen Türken, und Deutsche und Türken müssen wieder stärker zueinander finden." Dazu gehöre, dass beide Seiten auch einmal über Kleinigkeiten hinwegsähen. Sehr wichtig sei es, dass beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt jeder die gleichen Chancen bekomme.Und dann sagt Mevlüde Genç den Satz, der nach dem Brandanschlag zum Leitmotiv ihres Lebens wurde: "Die Älteren müssen die Jüngeren mitnehmen zu mehr Brüderlichkeit."

Rundschau abonnieren