Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview mit Alabi-Radovan„Gerede von Obergrenzen ist heiße Luft“

Lesezeit 3 Minuten
Reem Alabali-Radovan.

Reem Alabali-Radovan.

SPD-Staatsministerin für Migration spricht im Interview über Maßnahmen, die Belastbarkeit der Kommunen und die steigenden Asylgesuche.

Während Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, steigen in Deutschland die Asylgesuche und bringen Kommunen an die Belastungsgrenze. Wie kann das schon wieder passieren? Und welche Maßnahmen können Deutschland und die EU weiterbringen? Darüber hat Reem Alabali-Radovan, SPD-Staatsministerin für Migration mit unserer Redaktion gesprochen.

Als 2015 Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft zunächst groß. Im Frühjahr 2022 wurden die Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen begrüßt. Von dieser Willkommenskultur ist kaum etwas übrig geblieben. Was ist passiert?

Bei der Aufnahme von Geflüchteten erlebe ich weiterhin eine große Solidarität, aber auch Sorgen. Die Kommunen leisten einen enormen Kraftakt. Und manche kommen an die Belastungsgrenze. Die Stimmung ändert sich, ist rauer, dafür ist auch der Ton in der Migrationsdebatte verantwortlich. Es werden Ressentiments geschürt und Falschbehauptungen aufgestellt wie zuletzt durch Herrn Merz. Das legt die Axt an den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Was sich zu 2015 nicht verändert hat: Im Mittelmeer sterben Tausende Schutzsuchende, die Aufnahmelager sind überfüllt. Haben Deutschland und die EU nichts dazugelernt?

Die EU hat es nicht geschafft, eine solidarische Flüchtlingsverteilung und humane Asylverfahren an den Außengrenzen zu ermöglichen, Fluchtursachen und Schlepper nachhaltig zu bekämpfen. Die Bundesregierung arbeitet in Brüssel hart dafür, dass sich das endlich ändert. Erstmals sieht es jetzt nach einer gemeinsamen Lösung aus, die genau das ermöglichen soll. Die Reform kann insbesondere zu einer fairen Verteilung und einheitlichen Standards führen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist hier gerade in intensiven Verhandlungen.

Sie meinen die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, kurz Geas. Zuletzt gab es noch Bedenken von den Grünen. Kommt die sogenannte Krisenverordnung vor der Europawahl im Juni noch zustande?

Die Bundesregierung hat wichtige Änderungen zum Schutz vulnerabler Gruppen wie Familien und Kinder und gegen die Herabsetzung von Aufnahmestandards in die Verordnung reinverhandelt. Zu dem überarbeiteten Vorschlag hat die Bundesregierung im EU-Rat Zustimmung signalisiert.

Nancy Faeser war lange gegen stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien. Jetzt ist sie dafür. Woher kommt dieser Kurswechsel?

Es gab keinen Kurswechsel, die Option stationärer Kontrollen war immer auf dem Tisch. Jetzt gibt es eine Vereinbarung zu gemeinsamen Streifen der Bundespolizei mit unseren Nachbarländern, mit Polen und Tschechien. Klar ist: Grenzkontrollen sind ein wichtiger Schritt gegen Schleuserkriminalität. Wenn ich die Bilder von Transportern sehe, in denen Geflüchtete stehen, ohne Platz, ohne Luft, dann bin ich froh, dass die Bundespolizei diese Unmenschlichkeit verstärkt bekämpft.

Die Flüchtlingszahlen lassen sich so kaum senken.

Es gibt nicht die eine Lösung. Vielmehr müssen viele Maßnahmen ineinandergreifen, und genau das setzt die Bundesregierung um.

Was ist mit Obergrenzen, Mauern und Zäunen? Viele fänden das vermutlich gut.

Das Gerede von Obergrenzen ist doch heiße Luft, vollkommen abwegig, zudem rechtswidrig, denn was würde mit einer syrischen Asylbewerberin geschehen, die Person Nummer 1 jenseits einer Obergrenze wäre? Solche Diskussionen heizen nur die Stimmung weiter an, entmenschlichen Geflüchtete. Es geht so nur noch um Zahlen, Massen, Ströme – die persönlichen Schicksale dahinter verschwinden.

Vor allem die Länder und Kommunen sind frustriert – die Ampel weigerte sich lange, ihnen mehr Geld für die Flüchtlingsaufnahme bereitzustellen. Am Ende gab es nur einmalig eine Milliarde extra. Brauchte es keine dauerhafte Regelung?

Aus meiner Sicht ist eines der größten Probleme, dass wir immer nur agieren, wenn die Krise da ist. Dann werden Strukturen hochgefahren, Projekte bewilligt, Gelder nach langem Streit verteilt. Integration ist aber eine Daueraufginabe. Um uns krisenfest zu machen, müssen Bund, Länder und Kommunen eng und verlässlich zusammenarbeiten. Das hat in der Vergangenheit nicht immer gut geklappt. Darum ist es gut, dass die nächste Ministerpräsidentenkonferenz dazu einen gemeinsamen Beschluss fassen will, auch zu Fragen der dauerhaften Finanzierung.