Friedrich Merz' Äußerungen über Veränderungen in den Innenstädten waren unglücklich formuliert - doch sie treffen reale Probleme. Die reflexartige Empörung verengt eine längst überfällige Debatte.
Merz und das StadtbildWarum die Empörung das eigentliche Problem ist

Ein Wohnungsloser liegt in eine Jacke gehüllt in einer Fußgängerzone während Passanten vorbeigehen.
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Eins muss man Friedrich Merz lassen: Immer wieder trifft der Kanzler und CDU-Chef einen Nerv – und das gleich in doppelter Hinsicht: mit dem, was er sagt, und mit der Empörung, die darauf folgt. Die Bemerkung über „Veränderungen im Stadtbild“ mit dem Nachschlag „Fragen Sie mal Ihre Töchter“ mag unglücklich verengt bis ungeschickt formuliert gewesen sein. Doch der anschließende Empörungsausschlag zeigt vor allem eines: Wie eng der Korridor inzwischen geworden ist, in dem Politiker gesellschaftliche Missstände noch ansprechen dürfen. Dabei ist klar: Wer den Zustand vieler Innenstädte ohne ideologische Scheuklappen betrachtet, sieht handfeste Probleme, die sich nicht länger schönreden lassen: Armut, Gewerbeleerstand, Vermüllung, Orte, an denen sich Frauen mehrheitlich nicht mehr sicher fühlen.
Viele Ursachen für das veränderte Stadtbild
Die Ursachen reichen tief – von Wohnungsnot über finanziell klamme Kommunen bis zu überforderten Verwaltungen. Und, ja, auch Menschen mit Migrationshintergrund verändern das Stadtbild. Deutschland ist schließlich ein Einwanderungsland, mit allen Vor- und Nachteilen. Tatsächlich ist Zuwanderung ein Element der Realität urbaner Veränderung, aber eben nur eines unter vielen. Den Bürgern allein mehr Abschiebung als Lösung für damit verbundene Probleme zu verkaufen, wäre naiv. Ebenso falsch ist es jedoch, beim Kanzler immer nur rassistische Töne heraushören zu wollen – das vereinfacht die Debatte in fahrlässiger Weise. Das sollte auch bei seinen Kritikern angekommen sein.
Dass der Kanzler das Thema Stadtverfall – mit all seinen sozialen, ökonomischen und kulturellen Facetten – auf die politische Tagesordnung gehoben hat, war überfällig, endlich bekommt das Thema die Aufmerksamkeit, die es verdient. Politik und Gesellschaft sollten nun alles dafür tun, die Debatte weg von der Verengung auf Migration inhaltlich zu verbreitern und zu versachlichen. Wegsehen hilft niemandem. Man muss Merz nicht mögen, um ihm in diesem Punkt recht zu geben. Wer den Kanzler allerdings nur abkanzelt, betreibt das Spiel jener, die jede gesellschaftliche Schieflage zur nationalen Identitätsfrage erklären wollen. Die AfD profitiert von dieser Empörung und kann es sich deshalb leisten, in der Stadtbild-Debatte auffällig still zu sein. Linke, Sozialdemokraten und Grüne – aber auch die Mitte der Zivilgesellschaft – sollten sich gut überlegen, ob sie dieses Spiel mitspielen wollen.
