In seiner 100-Tage-Bilanz vermisst Stefan Körzell, der Vize-Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, eine Entlastung der breiten Bevölkerung. Die Politik der Bundesregierung müsse gerechter werden, findet er – und hat auch Vorschläge.
Vize-Chef des DGB„Performance der Bundesregierung lässt noch viel Luft nach oben“

Stefan Körzell, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB
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Der Mindestlohn steigt, und mit dem Tariftreuegesetz hat die schwarz-rote Koalition eine langjährige Forderung der Gewerkschaften erfüllt. Dennoch ist Stefan Körzell, Vize-Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), unzufrieden mit der Performance von SPD und Union. Woran liegt das? Das erläutert Körzell im Interview mit Thomas Ludwig.
Herr Körzell, die schwarz-rote Koalition ist angetreten, es besser zu machen als die Ampel. Ist ihr das gelungen?
Mit der Entscheidung, ein Sondervermögen aufzulegen, um unser Land auf Vordermann zu bringen, ist die Koalition zunächst gut gestartet. Das war uns als Gewerkschaft sehr wichtig, denn damit werden Investitionen möglich, die lange aufgeschoben wurden. Das bringt Infrastruktur und Wettbewerbsfähigkeit des Landes voran. Aber die aktuelle Performance der Bundesregierung lässt noch viel Luft nach oben
Worauf spielen Sie an?
Nehmen Sie die ausgebliebene Entlastung der Bürger bei der Stromsteuer, da wurde viel versprochen, aber dann sichtbar nicht erfüllt. Oder der Streit um die anstehende Besetzung der Richterposten am Bundesverfassungsgericht – wo bleibt da die Einigkeit der Koalition? Bundeskanzler Friedrich Merz liefert nicht die Führung, die er von seinem Vorgänger gern so lautstark eingefordert und den Wählern schließlich versprochen hat. Führung hat ja nicht nur mit gelungener Kommunikation zu tun, sondern auch mit der Fähigkeit zur Moderation, unterschiedliche Gruppen zusammenzubringen. Und das ist im Moment noch mangelhaft. Vor allem die CDU/CSU-Fraktion muss ihre Vielstimmigkeit in den Griff bekommen.
Sind Streitpunkte nicht schon in der Konstruktion Schwarz-Rot angelegt?
Differenzen gibt es in jeder Koalition, das sind ja keine Alleinregierungen. Natürlich muss sich eine neue Regierungskoalition in der Zusammenarbeit erst finden. Beim Sondervermögen und auch bei der Frage der Rentenstabilisierung und dem Tariftreuegesetz ist das geglückt. Da sind zentrale Zusagen gehalten worden, die auch uns als Gewerkschaft ein Anliegen waren. Beim Tariftreuegesetz muss es zwar noch Nachbesserungen geben, aber grundsätzlich wird es dafür sorgen, dass mit Lohndumping bei öffentlichen Aufträgen Schluss ist. Und ein Abrutschen des Rentenniveaus ist erstmal verhindert. Das ist ein wichtiges Signal an die Bürger. Der Bundestag sollte diese Gesetze jetzt schnell beschließen.
Aus Sicht der Arbeitnehmer hat die Koalition also etwas bewegt. Warum sind laut Umfragen dann zwei Drittel der Befragten unzufrieden mit Merz und seiner Truppe?
Die Bürgerinnen und Bürger haben offensichtlich mehr Probleme, als bisweilen im politischen Berlin wahrgenommen wird. Da ist der Strukturwandel, der Arbeitsplätze bedroht. Da ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind heute oft nicht mehr in der Lage, selbst bei einem guten Jobangebot eine Stadt zu wechseln, weil sie bei einer Neuvermietung mit horrenden Mietpreissteigerungen zu kämpfen haben. Das bremst die Mobilität von Fachkräften. Das belastet die Menschen, das schmälert ihr verfügbares Einkommen. Und je länger Bund und Länder zögern, der Misere am Wohnungsmarkt wirklich zu begegnen, desto schlimmer wird die Situation. Es gibt also noch viele Stimmungskiller, die die Koalition dringend adressieren muss.
Erfüllt die SPD als Juniorpartner hier die Erwartungen des Gewerkschafters?
Wir brauchen in Deutschland endlich eine neue und ernsthafte Debatte über die ökonomische Ungleichheit, die in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. Es wäre vor allem Aufgabe der Sozialdemokratie, das mehr in den Fokus zu rücken. Die Union redet ausschließlich über die Reform des Bürgergeldes und tut so, als könnten wir damit unseren Staat sanieren – das ist schlicht Quatsch. Stattdessen sollten wir darüber reden, wie Reiche und Superreiche einen höheren Beitrag zur sozialen Ausgewogenheit unseres Landes leisten können.
Bürgergeld: „Kann die Union nur warnen“
Die Forderung nach einer Vermögenssteuer ist nicht neu...
Dabei geht es nicht nur um die Vermögensteuer, die wieder eingeführt werden muss. Auch der Einkommensteuertarif muss so überarbeitet werden, dass kleine und mittlere Einkommen entlastet werden, während Spitzenverdiener durch einen höheren Spitzensteuersatz stärker beteiligt werden. Und wir brauchen eine Reform der Erbschaftsteuer, die wirklich große Erbschaften erfasst und nicht Omas kleines Häuslein. Deutschland zählt zu den Ländern mit der geringsten vermögensbezogenen Besteuerung. Wer hier einmal reich ist, der soll noch reicher werden – das ist die Message, die der Staat damit ausdrückt und da gehen wir als Gewerkschaften nicht mit. Hier muss unbedingt nachgearbeitet werden.
Aber Sie wissen doch, dass das mit der Union nicht zu machen ist.
Es gibt viele gesellschaftliche Verbündete in dieser Frage. Und ich kann die Union nur davor warnen, zu glauben, mit einer Reform des Bürgergeldes würde die Finanzsituation Deutschlands nachhaltig entspannt. Immer nur zu diskutieren, wie jene, die ohnehin am Rande der Gesellschaft stehen, den Gürtel enger schnallen müssen, wo gespart werden kann, ob wir die Eigenbeiträge bei der Pflege erhöhen, ob wir Gesundheitsleistungen privatisieren – das ist nicht in Ordnung. Und dann sollen die Beschäftigten auch noch mehr privat fürs Alter vorsorgen – wovon denn? Deutschland hat immer noch einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Viele Menschen verdienen so wenig, dass sie froh sind, im Monat über die Runden zu kommen. Da ist kein Spielraum für mehr private Eigenvorsorge. Die Entlastung der arbeitenden Mitte lässt auf sich warten.
Die Regierung will die Wirtschaft durch bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen bei Investitionen und eine niedrigere Körperschaftssteuer ankurbeln. Ist Friedlich Merz der Kanzler der Wirtschaft?
Abschreibungen sind sicherlich eine gute Möglichkeit, Investitionen anzureizen. Weitere Hilfen des Staates müssen aber an Arbeitsplatzerhalt und tarifliche Entlohnung gekoppelt sein. Das fehlt leider. Die pauschale Körperschaftssteuersenkung lehnen wir ab. Das so eingesparte Geld nutzen die Unternehmen ja oft gar nicht für die Modernisierung. Oft werden mit diesem Geld beispielsweise eigene Aktien zurückgekauft. In jedem Fall führt eine Senkung der Körperschaftssteuer zu enormen Steuerausfällen. Wie will die Merz-Regierung das kompensieren – mit massiven Einschnitten im sozialen Bereich? Davor kann ich nur warnen, es geht schließlich um die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Die Wirtschaftskrise schlägt zunehmend auf den Arbeitsmarkt durch, bald wird die Zahl von drei Millionen Arbeitslosen wohl überschritten. Wie besorgt sind Sie?
Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Vor allem in der Industrie fallen aktuell Arbeitsplätze weg, und wir haben die große Sorge, dass die Jobs, die dort einmal weg sind, nicht wieder zurückkommen. Deswegen ist der Handlungsdruck sehr, sehr hoch, endlich für wettbewerbsfähige Strompreise – nicht nur – für die Industrie zu sorgen. Die EU hat dafür bereits grünes Licht gegeben. Die Bundesregierung muss hier schnellstmöglich liefern.
Die AfD steht fast auf Augenhöhe mit der Union da. Warum gelingt es Schwarz-Rot nicht, die Partei einzudämmen?
Die AfD ist nach wie vor eine Ein-Themen-Partei. Sie setzt auf Angst, auf Verunsicherung, und macht die zu uns gekommenen Flüchtlinge für aktuelle Missstände verantwortlich. Das verfängt augenscheinlich leider immer noch. Das heißt aber auch, alles, was die Bundesregierung unternimmt, um für Sicherheit, Perspektive und eine gute Zukunft zu sorgen, ist ein Mittel gegen die AfD.