Ein Tag mit einer GutachterinPflegegrad statt Pflegestufe – was ändert sich dadurch?

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Pflege Symbolbild

Eine Pflegekraft hält in einem Seniorenheim die Hand einer Bewohnerin

Wieder so ein heißer Tag. Maria Hövelkamp, Teamleiterin Pflege im Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) Nordrhein, hat einen Termin zur Pflegebegutachtung, wie es im Fachjargon heißt. Sie besucht Adelheid Kresni (85, Name geändert) um festzustellen, ob und welche Leistungen sie von der Kasse erwarten kann, damit ihr Leben weniger beschwerlich ist. Seit mehr als einem Jahr sind der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das damit verbundene neue Verfahren zur Einstufung von pflegebedürftigen Menschen in Kraft. Aus drei Pflegestufen wurden fünf Pflegegrade. Aber was hat sich dadurch geändert?

Pflegewegweiser NRW

In NRW können Pflegebedürftige und ihre Angehörigen beim Pflegewegweiser erfahren, wo sie Beratung finden, die auf die persönliche Situation zugeschnitten ist. Angeboten wird der Pflegewegweiser NRW vom Projekt KoNAP – KompetenzNetz Angehörigenunterstützung und Pflegeberatung NRW.

Unter V 0800 4040044 können Ratsuchende werktags von montags bis freitags von 9 bis 19 Uhr sowie samstags von 9 bis 14 Uhr gebührenfrei anrufen. Das Team lotst Anrufer zu den Ansprechpartnern beim passenden Pflegeberatungsangebot und bei benötigten Hilfeleistungen.

Der Pflegewegweiser NRW bietet telefonisch und über eine Online-Suchfunktion die Möglichkeit, in einer umfassenden Datenbank nach geeigneten Pflegeberatungsstellen zu suchen. Auch professionelle Dienstleister, die Haus, Wohnung oder den Garten in Ordnung halten, bieten ihren Service an.

Um Pflegebedürftige und pflegende Angehörige zu entlasten, wurden außerdem sogenannte Kontaktbüros Pflegeselbsthilfe (KoPS) eingerichtet, die den Austausch mit Menschen in einer vergleichbaren Situation ermöglichen. Pflegende Angehörige können über die Online-Suchfunktion ein nahe gelegenes Kontaktbüro zur Pflegeselbsthilfe suchen. Darüber hinaus bietet die Plattform viele wertvolle Tipps rund um das Thema Pflege – von der Beantragung eines Pflegegrads bis hin zu verschiedenen Entlastungsmöglichkeiten.

Die Leistungen: Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff setzt die Unterstützung deutlich früher an. Beim Pflegegrad 1 gibt es einen zweckgebundenen Betrag von 125 Euro (z.B. Hilfe beim Einkauf); beim Pflegegrad 2 bis 5 reichen die Geldleistungen in der häuslichen Pflege von 316 bis 901 Euro (Angehörige pflegen). Pflegesachlichleistungen erstrecken sich in einem Wert von 689 bis 1995 Euro, hier kann die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch genommen werden. Bei einer vollstationären Unterbringung in einem Pflegeheim belaufen sich die Leistungen von 125 Euro (Pflegegrad 1) bis 2005 Euro (Pflegegrad 5). (tg)

www.pflegewegweiser-nrw.de

Die Kresnis wohnen im ersten Stock, kein Aufzug. Der erste Eindruck: Wie lange dauert es, bis auf das Klingelzeichen reagiert wird? Nach zehn, 15 Sekunden wird aufgedrückt. Nicht besonders bemerkenswert. Adelheild Kresni ist sehr hager. 1,60 Meter groß, sie zupft nervös an ihrer Kittelschürze. Auf ihr blendendes Aussehen angesprochen, sagt sie: „Ich mach’ mir an Sonnentagen nachmittags oft das Fenster auf und setzt mich in den Sessel.“ Jetzt ist sie leicht kurzatmig, die Hitze macht ihr zu schaffen.

Maria Hövelkamp nimmt der Situation viel von dem offiziösen Prüf-Charakter. Zielgerichtet, aber freundlich, nicht die Gutachterin, die abfragt, sondern eher gemeinsam mit den Patienten nach neuen Wegen sucht. Nicht so sehr ob, sondern wie geholfen werden kann, ist die Frage.

Als Adelheid Kresni ins Wohnzimmer führt, erhebt sich ihr Mann Walter (87) gerade von der Couch, auf die er sich hingelegt hatte. Auch ihn drückt die Hitze, vor allem aber: „die Beine“. Er stützt sich auf einen Rollator.

„Frau Kresni, ich würde ja lieber nebenan in dem Raum sitzen, dann kann man sich besser unterhalten und ich kann meinen Laptop auf dem Tisch abstellen“, meint Maria Hövelkamp. Die MDK-Gutachterin bevorzugt, im 90-Grad-Winkel zur Patientin zu sitzen. Das wirkt etwas weniger streng, man begutachtet nicht so offensichtlich, sondern unterhält sich. So locker Maria Hövelkamp wirkt, so strukturiert geht sie vor.

Am Ende der rund 90 Minuten hat die MDK-Gutachterin einen 24-seitigen Fragen-Katalog abgearbeitet. Wurden früher „nur“ Informationen zur Körperpflege (Waschen, Toilettengang), Ernährung (kann sie oder er noch alleine essen, oder muss es mundgerecht zubereitet werden) sowie Mobilität (gehen, Treppensteigen, anziehen) eingeholt, ist es jetzt mehr ein Gespräch, das auch die generelle Befindlichkeit, Befunde anderer Ärzte und den Zustand der Wohnung berücksichtigt. Konkret bedeutet das, dass man sich nach Verhaltensweisen und psychischen Problemen als Folge von gesundheitlichen Beeinträchtigungen erkundigt, die personelle Unterstützung erforderlich machen. Darüber hinaus werden kognitive Fähigkeiten überprüft, auch, um erste Anzeichen von Altersdemenz zu erkennen. Neu ist auch der Blick auf die Gestaltung des Alltag und soziale Kontakte.

„Ich bin seine Beine, er ist mein Gedächtnis“

Bei den Kresnis ist schnell klar: die Wohnung verlässt das Ehepaar nicht mehr so oft. Das hat viel damit zu tun, dass Walter Kresni so schlecht zu Fuß ist. Früher hatten sie in der Nähe einen Schrebergarten, ernteten und aßen eigenes Gemüse. Den Garten mussten sie verkaufen. Walter Kresni ist schon auf Pflegegrad 2 eingestuft.

Und dann das vergangene Jahr: „Da ist diese Vergesslichkeit gekommen“, erzählt Adelheid Kresni und guckt ihren Mann an. „Ich bin seine Beine, er ist mein Gedächtnis.“ Ja klar, Treppensteigen fällt auch ihr nicht mehr so leicht. „Aber was ist schon ideal, wenn man so alt ist“, sagt sie. Wieder der Blick zu ihrem Mann.

Maria Hövelkamp will mehr über den Tagesablauf erfahren. Adelheid Kresni liest viel in Illustrierten, sieht sich Musik-Sendungen an. Vor zwei Jahren – oder war das vor einem? – war sie mal in einer Reha. „Das war schön, vor allem die Wassergymnastik.“ Und Kochen? Viel aus Büchsen. „Die bekommen Sie noch auf?“. „Ja, das geht“, antwortet Adelheid Kresni. Was nicht mehr geht, ist das Anziehen des Korsetts. Wenn das nicht klappt, „ist sie eins, zwei, drei im Brass“, sagt Walter Kresni.

Maria Hövelkamp hört sich das an, auch die Kabelleien zwischen dem Ehepaar, das seit 64 Jahren verheiratet ist. „Manchmal erzählt sie mir Sachen drei Mal innerhalb kürzester Zeit“, klagt Walter Kresni. Das solle sie doch mal beim Neurologen abklären lassen, ermuntert die Gutachterin. Aber sie sei schon bei einem gewesen, entgegnet Adelheid Kresni. Es sei alles in Ordnung. Auch ein Grund, warum Maria Hövelkamp noch während des Besuchs Kontakt zum Hausarzt aufnimmt. Termine mit dem Neurologen werden angeregt. Ergotherapie wäre bestimmt etwas, meint die Gutachterin. Und warnt: Der dicke Teppich im Wohnzimmer sei eine Stolperfalle.

Im vergangenen Jahr hat eine anonyme Befragung unter den Versicherten stattgefunden. 88 Prozent der Befragten schätzten danach die Gutachter als „kompetent und einfühlsam“ ein, lobten den persönlichen Kontakt und das Eingehen auf die individuelle Situation. „Die Ergebnisse belegen, dass unsere Mitarbeiter gute Arbeit leisten und die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen im Blick haben“, sagt Werner Greilich, stellvertretender Geschäftsführer des MDK Nordrhein.

Maria Hövelkamp berichtet, dass aufgrund der steigenden Zahl an Anträgen mehr Personal eingestellt wurde. Waren es im Jahr 2012 noch 30 Gutachter, die sich in Köln um die Begutachtungen der Versicherten kümmerten, so sind es inzwischen 64 Pflegefachkräfte. Die Gutachter sollten Berufs- und Lebenserfahrung, Empathie und Sensibilität mitbringen. Oft käme man in Wohnungen, die nicht so gut organisiert seien wie bei den Kresnis.

Der Termin bei dem Ehepaar geht zu Ende. In den nächsten Tagen wird Maria Hövelkamp ihre Aufzeichnungen prüfen und sich dafür entscheiden, Adelheid Kresni für Pflegegrad 2 zu empfehlen. Die ist auch ohne dieses Wissen nach dem Termin entspannt, und überlegt, ob sie einkaufen gehen soll. Ihr Mann scherzt: „Und kommst Du auch zurück?“ Seine Frau dreht sich um und lacht: „Pass up, Du!“

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