Kölner findet Uralt-BriefDas Post-Rätsel um den Mann vom Kirmesplatz

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Reinhold Kruse mit seinem rätselhaften Fundstück.

Reinhold Kruse mit seinem rätselhaften Fundstück.

In einem Haus am Ehrenfeldgürtel tauchte ein 66 Jahre alter Brief auf, über den Empfänger ist wenig herauszufinden. Versuch einer Spurensuche.

Ein 66 Jahre alter Brief und viele Fragen. Das unscheinbare papierbraune Kuvert, das Reinhold Kruse vor wenigen Wochen im Haus Ehrenfeldgürtel 166 fand, steckt voller Rätsel. Kruse ist seit Jahrzehnten passionierter Stadtteilhistoriker – vorwiegend der Nippeser Ortsgeschichte. Logisch, dass seine Neugier auch hier geweckt war.

Erster Gedanke: Die Schneckenpost war am Werk. Das von einem Augsburger Schausteller-Unternehmen verschickte Schreiben ist mit einer 20-Pfennig Marke frankiert. Der Poststempel trägt das Datum 20. Februar 1958. Augsburg und Köln sind etwa 500 Kilometer voneinander entfernt.

Der Brief enthält Informationen zu Jahrmärkten in Bayern im Jahr 1958.

Der Brief enthält Informationen zu Jahrmärkten in Bayern im Jahr 1958.

Doch brauchte die Post wirklich 66 Jahre, um einen Brief zuzustellen? Auf Nachfrage schloss eine Sprecherin der Deutschen Post aus, dass der Brief in jüngster Zeit zugestellt worden sein könnte. Sonst wäre ein fluoreszierender Strichcode auf dem Umschlag.

Augsburger Schausteller schickte Brief – Adressat unbekannt

Der Augsburger Schausteller Edmund Diebold bestätigt immerhin am Telefon, dass sein längst verstorbener Großvater Donat Diebold, der im Briefkopf vermerkt ist, das Schreiben verschickt hat. Zum Adressaten in Köln, ein Schausteller namens Willi Heidel, konnte Diebold jedoch nichts sagen.

Wo auch immer der Brief gelegen hat – bei Willi Heidel kam er nie an. Heidel wohnte nämlich nie im Haus 166 am Ehrenfeldgürtel, sondern in Wirklichkeit unter der Hausnummer 66. Vielleicht hat der Postbote schon 1958 einfach nicht genau hingeschaut: Die mit Schreibmaschine getippte Adresse ist nämlich mit „Ehrenfeldergürtel66“ falsch geschrieben, und ein Leerzeichen fehlt. So ist bei flüchtigem Blick „166“ zu lesen. Dort tauchte der Brief ja nun auf. Denkbar also, dass er erst in einer Schublade verschwand, dann in einer Umzugskiste und schließlich ganz woanders in einem Keller oder Dachboden, wo ihn jemand jetzt fand und glaubte, ihn an der richtigen Adresse abzugeben.

Köln: Auf unbebautem Grundstück wohnten Schausteller

Die Hausnummer 66 existiert heute nicht mehr, 1958 tat sie das aber. Unter dieser Anschrift ist der Name Heidel im Adressbuch noch eingetragen, und dort sind auch Namen vieler weiterer Schausteller und Artisten aufgeführt. „Es war ein unbebautes Grundstück, wo etliche Schausteller wohnten. Mein Vater wurde dort 1934 geboren“, erklärt Dirk Rosenzweig am Telefon. Der Name dieser Schausteller-Dynastie ist mehrfach genannt. Der Name Heidel sagt ihm aber auch nichts. Platz und Adresse verschwanden, als das Areal zwischen Vogelsanger- und Venloer Straße bebaut wurde. Die Häuser erhielten die Nummer 2 bis 20.

Die Kreuzung Venloer Straße/Ehrenfeldgürtel in den 50er-Jahren. Rechts befand sich das noch unbebaute Grundstück Ehrenfeldgürtel 66.

Die Kreuzung Venloer Straße/Ehrenfeldgürtel in den 50er-Jahren. Rechts befand sich das noch unbebaute Grundstück Ehrenfeldgürtel 66.

An der Takustraße in Neuehrenfeld gibt es noch einen Schaustellerplatz, doch auch dort hat niemand den Namen Heidel je gehört. Eine Frau vom Platz sagt, dass sich die oft weit verstreut lebenden Familien eigentlich alle untereinander kennen würden. Ein anderer Bewohner mutmaßt, dass Heidel vielleicht nur ein Schausteller-Gehilfe war. Manchmal nannten auch die sich Schausteller.

Expertin vermutet: Heidel betrieb eine Schaubude

Der Brief, den Reinhold Kruse gefunden hat, enthält Terminangaben zu Kirmesplätzen in Landsberg, Füssen und Schongau. Dazu noch den Hinweis, dass in Sonthofen Hypnosevorführungen verboten wären. Wir fragen bei Margit Ramus nach, die einer Schausteller-Familie entstammt und und promovierte Kunsthistorikerin ist. Ramus hat die Webseite „Kulturgut Volksfest“, ein digitales Archiv und eine Enzyklopädie, aufgebaut und ist sicher, dass Willi Heidel eine Schaubude betrieb. Das waren kleine Varieté-Bühnen, wo Kunststücke und Kuriositäten – wie etwa die „Dame ohne Unterleib“ gezeigt wurden. Einer der Kirmesleute von der Takustraße sagt: „Mit Schaubudenbetreibern wollten wir nie viel zu haben. Die gehörten nicht dazu.“

Schaubuden auf Kirmesplätzen und Volksfesten sind längst aus der Mode. Der Brief und sein Inhalt würde Willi Heidel heute nicht mehr viel nutzen. Ob er noch lebt, ist nicht bekannt. Vom Ehrenfeldgürtel 66 musste er – wie alle anderen Schausteller – 1962 wegziehen. Adressbücher verraten, dass er – verwitwet inzwischen – zunächst nach Neuehrenfeld, dann nach Mülheim und schließlich nach Höhenhaus zog.

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