Direktorin Bettina Schmidt-Czaia spricht im Interview über die Katastrophe vom 3. März 2009 und die Entscheidung zur Rettung der Kulturgüter.
Kölns Archiv-Direktorin„Ich habe geschrien wie am Spieß. Es war das Ende der Welt“

Das eingestürzte Kölner Stadtarchiv an der Severinstraße am 4. März 2009. Auf der Suche nach zwei verschütteten Männern begann die Feuerwehr an diesem Tag, den Flachbau an der Rückseite des kollabierten Magazinturms mit schwerem Gerät abzureißen.
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20 Jahre hat Dr. Bettina Schmidt-Czaia (65) das Historische Archiv der Stadt Köln geleitet, nun geht sie in den Ruhestand. Michael Fuchs sprach mit ihr über die Entwicklung des Archivs und den Einsturz 2009.
Sie stammen aus Ostwestfalen, beruflich waren sie bis 2005 in Niedersachsen tätig. Warum wollten Sie nach Köln?
Damals war ich Direktorin des Stadtarchivs Braunschweig und fühlte mich dort sehr wohl. Es war eine kleine Kulturverwaltung, eine wirklich nette Truppe. Zu meinem Mann habe ich gesagt: Wenn ich mich noch einmal beruflich verändern würde, dann würde ich versuchen, die Leitung des Kölner Archivs zu bekommen. Köln hat die schönsten Altbestände. Mein Thema als Historikerin sind Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Ich habe über ein Kollegiatstift promoviert und wollte in diesem Bereich weiterforschen. Daher hat mich Köln gereizt.
Wie kam es, dass Ihr Wunsch wahr wurde?
Nun, ich hatte es kaum ausgesprochen, als wenige Monate später in unserem Blättchen – das hieß damals tatsächlich noch „Der Archivar“, inzwischen „Archiv“ – eine Stellenanzeige erschien für die Leitung des Kölner Stadtarchivs. Mein Mann hat gelacht und gemeint, in Köln sei doch eh alles ausgeklüngelt. Das hat mich geärgert und zusätzlich motiviert, mich zu bewerben.
Und dann?

Dr. Bettina Schidt-Czaia (65), Direktorin des Historischen Archivs der Stadt Köln, geht in den Ruhestand.
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Es hat unheimlich lange gedauert. Ich hatte meine Bewerbung schon wieder vergessen. Dann bekam ich einen Anruf vom damaligen Kulturdezernenten Georg Quander. Danach ging alles sehr schnell.
Das Archiv war damals an der Severinstraße. In welchem Zustand haben Sie es übernommen?
Damals hatte man in Archivkreisen von den Kollegen in Köln schon sehr lange nichts mehr gehört und man traf sie auch nicht auf Tagungen und Kongressen an. Und das, obwohl die Kölner Bestände zu den bedeutendsten in Europa gehören. Die Leitung war seit rund zwei Jahren vakant, das Personal auf 26 Stellen zusammengestrichen worden.
Was haben Sie als Erstes in Angriff genommen?
Ich habe zuerst dafür gesorgt, dass das ganze Haus an das Internet angeschlossen wurde. Das war nämlich noch nicht der Fall. Die Kolleginnen und Kollegen hatten kein Erschließungsprogramm für die Bestände. Die wurden tatsächlich noch mit Karteikärtchen verwaltet.
Im Jahr 2005?
Die Mitarbeitenden saßen an einzelnen PCs und tippten in die Tasten. Sie konnten mit anderen Dienststellen keinen Kontakt aufnehmen per E-Mail oder Internet. Der PC im Büro des Verwaltungsleiters war der einzige im ganzen Haus, der einen Modem-Zugang hatte und nach draußen kommunizieren konnte. Das machte unseren Auftrag schwierig, denn wir sind für alle Dienststellen der Stadt zuständig – für Beratungen in der Verwaltung und die Übernahme von Schriftgut, das nicht mehr gebraucht wird, sowohl digital als auch analog.
Wie ging es weiter?
Wir haben alles vernetzt und eine einheitliche Möblierung angeschafft. Die alte stammte noch aus den 60ern oder 70ern. Wir haben ein Erschließungsprogramm angeschafft und uns ganz neu aufgestellt. Die Frage, welche Aufgabe ein Archiv hat, hatte ich mir selbst dergestalt beantwortet, dass ich dachte: Es muss nicht bloß etwas für die Forschenden in Deutschland und der Welt sein, sondern vor allem etwas für die Kölnerinnen und Kölner. Mir schwebte etwas vor, das man heute dritten Ort nennt. Ein Bürgerarchiv.
Warum war Ihnen das wichtig?
Damals waren die Archive keine Bürgerarchive, das gehörte sich nicht. Die Wissenschaft blieb unter sich. Heute sind sie alle Bürgerarchive. Wenn man schützen will, was in diesen Archiven liegt, gibt es nur einen Weg: Dass man die Öffentlichkeit einbezieht, dass man sie interessiert für das, was da liegt. Dass die Menschen merken, dass die Vergangenheit uns etwas zu sagen hat.
Drei Jahre und drei Monate nach Ihrem Amtsantritt stürzte das Stadtarchiv am 3. März 2009 um 13.58 Uhr wegen Pfusch beim Bau der Nord-Süd-U-Bahn ein. Zwei junge Männer starben. Wie haben Sie die Katastrophe erlebt?
Der Tag hatte eigentlich schön begonnen. Mittags hatte ich mir auf der Severinstraße noch einen Strauß Tulpen gekauft, um 13 Uhr hatte ich in meinem Büro ein Treffen mit dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Wir hatten ein Jubiläum vorzubereiten, zu dem wir eingeladen waren in den Landtag. Um kurz vor zwei waren wir mit der Besprechung durch. Da stürmte unser damaliger Haustechniker herein. Er war sehr aufgeregt und rief: „Frau Schmidt-Czaia, Sie müssen sofort raus. Laufen Sie raus!“
Was passierte dann?
Mein Besucher stand auf und ging. Ich holte Mantel und Tasche und bin losgeflitzt, hinten raus, Richtung Kaiserin-Augusta-Schule. Das war der Fluchtweg damals. Ich hatte Pumps an und hörte nur meine eigenen Schritte auf dem Linoleumboden klacken. Ich habe niemanden gesehen oder gehört und dachte schon, man wollte mich foppen. Ich bin dann zurück gerannt durch den Bereitstellungsraum, wo das Archivgut für den Lesesaal aufbewahrt wird. Ich habe die Stahltür aufgerissen und gesehen, da sind alle in Aufruhr, die waren gewarnt worden. Da habe ich auch geschrien: Raus, raus! Alles raus! Und dann habe ich, statt vorne rauszulaufen – was viel näher gewesen wäre – vorschriftsmäßig auf dem Absatz kehrtgemacht und bin hinten raus.
Wie ging es weiter?
Ich habe den Haustechniker gefragt: Warum sind wir eigentlich rausgelaufen? Und er hat es nicht mal geschafft zu antworten, weil sich in dem Moment unser Magazinturm auf so eine seltsam elegante Weise drehte und vor unseren Augen in sich zusammenfiel. Alles war sofort voller Staub, so bräunlich graubraun. Ganz merkwürdig.
Was haben Sie empfunden als Leiterin dieses Archivs?
Ich weiß, dass ich sehr aufgebracht war. Ich habe sofort gewusst, das ist die absolute Katastrophe. Ich habe geschrien wie am Spieß. Bis der Verwaltungsleiter auf mich zukam, mich an der Schulter packte und sagte: Sie müssen jetzt aufhören zu schreien. Ich war außer mir, völlig entsetzt und tief verletzt. Es war das Ende der Welt.
Wann kamen Ihnen Gedanken wie: Was ist noch zu retten? Was sollen wir tun?
Am Unglückstag ging es zuerst um die Frage: Ist noch jemand von uns da drin? Zum Glück war das nicht der Fall. Das Nachbarhaus war eingestürzt, zwei junge Männer wurden vermisst. Am nächsten Tag erklärte mir die Feuerwehr, man werde jetzt baggern, um die verschütteten Männer zu suchen. Dann wären alle Archivalien zerstört worden. Ich sollte dazu mein Einverständnis geben. Natürlich war auch mir wichtig, dass die Vermissten schnellstmöglich gefunden werden, aber gleichzeitig wollte ich, dass man alles daran setzt, dass keine Archivalien zerstört werden. Als Archivarin bin ich mein ganzes Leben dazu erzogen worden, alles dafür zu tun, dass Archivgut erhalten bleibt. Das habe ich so deutlich gesagt, dass die Krisenstabsleitung mich aufgefordert hat, mit dem stellvertretenden Feuerwehrchef vor der Tür eine Einigung zu erzielen und dann wieder reinzukommen. Wir haben da draußen gestanden und uns gestritten. Zum Glück hat er sich dann mit dem damaligen Feuerwehrchef beraten, der an der Einsturzstelle saß. Der war ein großer Freund unseres Hauses und wusste genau, was da eingestürzt war und jetzt in den Trümmern lag. Nämlich praktisch die ganze Geschichte der Stadt Köln.
Was passierte dann?
Selbstverständlich ist es wichtiger, dass man versucht, Menschenleben zu retten, als Archivgut zu retten. Die Feuerwehr hat sich kurz beraten und dann eine andere Strategie entwickelt. Die Einsturzstelle wurde nicht von der Severinstraße aus, sondern von der Rückseite her mit schwerem Gerät geräumt. Und vorne begann man, Trümmer und Archivgüter händisch zu bergen. Diese Entscheidung vom 4. März 2009 ist nie wieder in Frage gestellt worden. An der Severinstraße befand sich der Turm mit dem Archivgut, der eingestürzt ist. Dahinter lag ein Atrium-Gebäude, da waren drei Höfe und ein Flachbau. Man ist von hinten mit schwerem Räumgerät in dieses Gebäude gefahren, hat es abgerissen und ist dann schräg zu der Stelle vorgerückt, wo die beiden jungen Männer vermutet wurden. Das war der Kompromiss. Am Ende dauerte die Bergung der Archivgüter rund zweieinhalb Jahre.
Vieles wurde zerstört oder stark beschädigt. Wie steht es um die Restaurierung?
Das ist ein Prozess für Generationen. Wir mussten durchnässte Archivgüter schockgefrieren und später in Vakuumtrocknern schonend wieder auftauen. Jede Seite muss händisch vom Baustaub befreit werden. Bis Ende 2021 war ein Teil der Bestände in Gastarchive ausgelagert, nun ist alles wieder an unserem Standort am Eifelwall vereint. Die gesamten Prozesse durchlaufen hat bisher knapp ein Fünftel der Bestände.
Wie lange wird es dauern, bis alles restauriert ist?
Bis mindestens 2050, würde ich sagen. Man kann es nur sehr ungefähr sagen, weil wir nicht wissen, ob nicht vielleicht doch noch irgendein genialer Erfinder etwas erfindet, was die händische Bearbeitung ersetzt.
In einem Vergleich mit den beteiligten Baufirmen hat die Stadt 600 Millionen Euro erhalten. Davon flossen 450 Millionen Euro in eine Rückstellung für die Restaurierung und Wiedernutzbarmachung beschädigter Archivgüter. Wird das Geld reichen?
Das hoffe ich doch. Man muss den eingeschlagenen Weg, den der Rat beschlossen hat, jetzt aber auch wirklich in den nächsten 20, 30 Jahren durchhalten.
Nach der Katastrophe kamen nach und nach die Gründe für den Archiveinsturz ans Tageslicht. Gab es irgendwann einen Punkt, an dem Sie richtig wütend geworden sind über den schlimmen Pfusch auf der Baustelle?
Nach dem Einsturz wurde die ganze Stadtspitze angefeindet, auch ich. Ich habe immer gedacht, du musst abwarten, was Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft an Beweisen sichern und wie dieses Verfahren weitergeht. Du sagst am besten gar nichts. Dann habe ich irgendwann einen großen Artikel über den zeitlichen Ablauf bei diesem Baupfusch gelesen. Da wurde mir klar: Entscheidende Fehler wurden im Juli, August 2005 gemacht. Genau zu der Zeit, als mich Georg Quander fragte, ob ich die Stelle will. Am 30. August 2005 habe ich mich im Kulturausschuss vorgestellt, ab 2. November war ich in Köln tätig.
Als mir die zeitliche Parallele klar wurde, war ich wirklich zerstört. Ich dachte: Du hast überhaupt keine Chance gehabt. Du hast so viel investiert in die Reorganisation dieses Archivs, aber sein Untergang stand praktisch von Anfang an schon fest, weil beim Bau auf kriminelle Weise geschlampt wurde.
Der Einsturz hatte insofern auch etwas Gutes, dass die Kölner inzwischen viel mehr Interesse an ihrem Archiv zeigen.
Die Leute haben plötzlich gemerkt, was fehlt, wenn ein Archiv nicht mehr da ist. Wehe, die ganze Schriftkultur einer Stadt ist weg. Dann fühlen sich die Menschen bedroht. Und genau das ist 2009 passiert. Man konnte sich doch nirgends blicken lassen als Kölner. Jeder hat einen auf diesen Einsturz angesprochen: Was war denn da los? Was macht ihr denn? Das kann doch nur in Köln passieren, hieß es. Mit dem neuen Standort am Eifelwall haben wir ein Archiv geschaffen, das allen Bürgerinnen und Bürgern offen steht und mit Ausstellungen und Veranstaltungen in der Stadt präsent ist.
Können Sie sich zu Hause eigentlich gut von Sachen trennen oder heben Sie alles auf?
Ich kann mich wirklich gut trennen. Die Öffentlichkeit denkt immer, Archivare würden alles aufbewahren. Nein, das tun sie nicht. Sie sind Weltmeister im Wegwerfen. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, ist unsere eigentliche Aufgabe. Wir dürfen ja höchstens fünf bis zehn Prozent dessen, was die Stadt so produziert, überhaupt übernehmen. Sonst würden wir uns zumüllen. Deshalb kann ein guter Archivar vor allem eines entscheiden: wann etwas nicht mehr gebraucht wird und weg kann. Das kann ich auch in meinem Privatleben.