Hinter jedem alkoholabhängigen Menschen stehen vier bis fünf Angehörige, die ebenfalls von der Sucht betroffen sind. In der Fachklinik in Köln-Niehl kümmert man sich auch um diese.
Neue Selbsthilfegruppe im St. Agatha„Ich bin co-abhängig seit ich denken kann“

Alkoholabhängigkeit ist die wohl bekannteste und häufigste Suchterkrankung unserer Zeit - auch Angehörige sind betroffen
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„Geht es Ihnen gut?“ Schon bei ihrem ersten Treffen vor zwei Jahren spricht Dr. Yasemin Göreci die Ehefrau eines Patienten an, der in der Cellitinnen-Marienborn St. Agatha Fachklinik für Seelische Gesundheit im Qualifizierten Alkoholentzug ist. „Ich habe gesehen, dass es ihr nicht gut geht“, erinnert sich die Ärztin. „Ich komme zurecht“, lautet damals die Antwort der 52-Jährigen, die heute sagt: „Ich habe einfach nur funktioniert. Selbst nach Hilfe zu fragen, war undenkbar.“
Heute, zwei Jahre später, ist es ihr gelungen. Die Kölnerin hat sich als Partnerin eines alkoholkranken Mannes Hilfe gesucht, in der Tagesklinik von St. Agatha und in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige. „Ich bin co-abhängig seit ich denken kann“, sagt die 52-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihr Vater war Alkoholiker, und auch ihr Mann ist suchtkrank.
Nach zehn Jahren Abstinenz wieder rückfällig geworden
An den Tag, als ihr Partner nach zehn Jahren Abstinenz wieder rückfällig wurde, erinnert sie sich noch genau. Mit einem Schluck Jägermeister, der noch von einem Weihnachtsfest in einer Flasche war, habe es wieder begonnen. „Da stand jemand hinter mir und hat mir einfach so die Matte unter den Füßen weggezogen. So hat sich das angefühlt“, sagt die Partnerin heute. „Von da an war ich Mama 2.0 für meinen Mann, ich habe mich einfach verantwortlich gefühlt.“ Sie rief auf seiner Arbeitsstelle an, dass er nicht kommen könne, solange bis er den Job nach einem Unfall verlor. Ihr Mann trinkt zu dieser Zeit vor allem Hochprozentiges, immer alleine. Seine Partnerin schämte sich, log aber weiter, finanzierte die Sucht mit. „Es hat mein Leben komplett verändert“, sagt die 52-Jährige. „Und wir hatten ein sehr schönes Leben bis dahin.“ Drei bis vier Mal im Jahr seien sie in den Urlaub gefahren, heute seien sie finanziell gar nicht mehr dazu in der Lage. Ob sie an Trennung gedacht habe? „Mehr als einmal“, sagt sie. „Aber ich habe das Gefühl, ich trage die komplette Verantwortung. Wenn er das nicht überleben würde, könnte ich damit nicht leben.“

Dr. Yasmin Göreci, Stationsärztin der St. Agatha Fachklinik für Seelische Gesundheit
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Laut dem Jahrbuch Sucht 2025 konsumieren in Deutschland 7,9 Millionen Menschen riskante Mengen an Alkohol. Alkoholsucht zieht sich durch alle Schichten, laut einer Studie des RKI greifen gerade Akademiker öfter zum Glas als andere Personengruppen. Auch die Gründe für das Trinken sind vielfältig. „Eine traurige alte Dame, die ihren Mann verloren hat. Eine Frau mittleren Alters, die unter dem Druck lastet, sich um ihre komplette Familie kümmern zu müssen. Ein junger Mann mit einer posttraumatischen Belastungsstörung“, zählt Dr. Yasemin Göreci Beispiele aus dem Klinikalltag auf. In St. Agatha durchlaufen die Patientinnen und Patienten ein 21-Tage-Programm, das sich „Qualifizierter Alkoholentzug“ nennt. Oft werden parallel psychische Erkrankungen, wie etwa Depressionen, mitbehandelt. „Sucht ist ein weiteres Symptom“, sagt Oberarzt Per-Eric Fischer.

Oberarzt Per-Eric Fischer
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Die 18 Betten auf der Station Hermann Josef sind fast immer gefüllt. Während der Entgiftung sind aber nicht nur die Patienten stark betroffen, sondern auch die Angehörigen. „Sie sind zwar nie im Zentrum der Erkrankung und werden oft übersehen, sie sind aber trotzdem auch schwer betroffen“, sagt Dr. Yasmin Göreci. Um ihnen eine Anlaufstelle zu bieten, hat sie an der Fachklinik St. Agatha im Mai eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken gegründet.
Sucht ist ein weiteres Symptom.
Es sind häufig Frauen, die betroffen sind: Mütter oder Partnerinnen, sowie Kinder. Auch bei ihnen können sich durch die Belastung psychische Erkrankungen entwickeln. „Schätzungsweise vier bis fünf Personen im Umfeld von Alkoholkranken sind betroffen“, sagt Oberarzt Fischer und erklärt den Begriff der Co-Abhängigkeit: „Verhaltensweisen ändern sich, der Alkohol rückt in den Fokus und teilweise wird die ganze Beziehung drauf ausgerichtet.“ Angehörige könnten deshalb zwar sowohl zur Genesung der Suchterkrankungen beitragen, als auch die Erkrankungen teilweise verstärken. „Wie man sich als Angehörige oder Angehöriger verhalten soll, ist gar nicht so intuitiv, wie man vielleicht denken könnte“, sagt Dr. Göreci. „Wir versuchen den Angehörigen zu erklären, dass sie sich auch um sich kümmern müssen und Grenzen setzen müssen.“
Die Angehörigen-Gruppe trifft sich im Abstand von drei Wochen. „Die Angehörigen fühlen sich gesehen und erfahren Unterstützung“, erklärt die Ärztin. „Unter Gleichgesinnten fällt das Schambewusstsein weg“, sagt auch die 52-jährige Teilnehmerin der Gruppe. „Vor anderen versucht man normalerweise, die Sucht so gut es geht zu verstecken.“ Denn eine Sucht bestehe oft über viele Jahre. Laut Erhebungen dauere es rund zehn Jahre, bis jemand professionelle Hilfe in Anspruch nimmt. Und das nicht nur einmal: „Die Rückfallquote liegt bei rund 80 Prozent im ersten Jahr“, so Fischer. Schließe sich an den Entzug noch eine Langzeit-Reha an, stehe man bei rund 20 Prozent. „Mit einer schweren Suchterkrankung hat man in der Regel ein Leben lang zu tun.“ Wenn sich die 52-jährige Kölnerin etwas wünschen könnte, dann dass es keinen Alkoholverkauf mehr gäbe. Sie brauchen nur einkaufen zu gehen, in jeden Supermarkt, in jeden Kiosk. „Es ist die Droge, an die man am einfachsten kommt.“ Am meisten wünsche sie sich aber Ruhe. Ruhe, die erst dann einkehrt, wenn die Sucht überwunden ist.
St. Agatha: Vom Veedelskrankenhaus zum Fachklinik für die Psyche
1905 wurde das Krankenhaus in Niehl eingeweiht und eröffnet. Im Ersten Weltkrieg wurden dort auch Soldaten von katholischen Ordensschwestern gepflegt. Die Verwundeten wurden teilweise mit der Straßenbahn nach Niehl transportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Krankenhaus von Bomben getroffen wurde, wurde es immer weiter ausgebaut. Seit 2005 gibt es auch eine Kurzzeitpflegeeinrichtung auf dem Gelände.
Mit dem Krankenhausplan 2016 wurden dem St. Agatha Krankenhaus zu der bestehenden Psychosomatik die Fachgebiete Psychiatrie und Psychotherapie zugesprochen. Die Eröffnungen der PIA (Psychiatrischen Institutsambulanz) sowie der Tagesklinik folgten, 2023 wurde das St. Agatha Krankenhaus in Niehl zur „Fachklinik für Seelische Gesundheit“ und baute die bereits etablierten Fachbereiche Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie weiter aus.
2001 wurde die Stiftung der Cellitinnen e.V. gegründet, 2022 folgte der Zusammenschluss mit der Stiftung der Cellitinnen zur hl. Maria zum Trägerverbund „Stiftung der Cellitinnen“. St. Agatha ist in der Marienborn gGmbH organisiert, eine Gesellschaft der Stiftung der Cellitinnen.
Aktuell verfügt die Klinik über 76 Betten auf fünf Stationen und übernimmt die psychiatrische Pflichtversorgung im Kölner Norden.

Die St. Agatha Fachklinik für Seelische Gesundheit in Niehl
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Angehörigen-Café
Seit Mai 2025 hat die St. Agatha Fachklinik ein regelmäßiges Angehörigen-Café unter dem Motto „Hier werden Sie gesehen“ etabliert. Dabei handelt es sich um ein Info- und Erfahrungsaustausch für Angehörige mit Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern und der Pflege. Bei Kaffee und Kuchen werden in ruhiger und entspannter Atmosphäre Themen der Angehörigen in den Fokus gestellt.
Weitere Termine in 2025 sind am 3. November, 24. November und 15. Dezember, jeweils von 14.30 bis 16 Uhr in der Cafeteria der Fachklinik. Anmeldung per Mail an sekpsych@st-agatha-krankenhaus.de.
Weitere Infos über www.stagatha-fachklinik.de
