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Alex SchulmanGeschichte über die Alkoholkrankheit der Mutter

Lesezeit 4 Minuten
Der schwedische Autor Alex Schulman

Der schwedische Autor Alex Schulman 

In "Vergiss mich" nähert sich Alex Schulman dem Tabuthema Trunksucht in der Familie und kämpft um seine Mutter. 

Mit dem Titel „Vergiss mich“ dürfte Alex Schulman bei seinen Lesern genau das Gegenteil erreichen. Nichts vergisst man. Ergreifend erzählt der schwedische Autor von seiner alkoholkranken Mutter, von der verstörenden Co-Abhängigkeit und der Sehnsucht nach Versöhnung. Als Kind und noch als Erwachsener ist er zutiefst verunsichert.

Plötzliche Zurückweisung

Plötzlich und unvermittelt erfährt der Junge immer wieder Zurückweisung, die er sich anfangs nicht erklären kann. Zum Beispiel als er die Mutter, als sie in den Ferien nachkommt, zur freudigen Begrüßung an einem Kiesweg abpassen will, sie ihn aber ignoriert und weiterfährt, obwohl sie ihn eigentlich nicht übersehen konnte. Der Junge läuft alleine zurück, voller Angst und Anspannung, die sich erst am nächsten Tag entladen, als die Mutter ihr Schweigen bricht und ihn wieder zur Kenntnis nimmt.

Nie aber verliert er den Wunsch nach Liebe und Anerkennung. Meisterhaft ist dabei die Analyse selbst kleinster Details, die für das große Ganze stehen. Blick auf Zwischenmenschliches Der schwedische Autor geht in seinen Büchern immer wieder gnadenlos in die eigene Familiengeschichte hinein. Sei es in „Die Überlebenden“ oder in „Verbrenn all meine Briefe“.

Letzteres ist die Auseinandersetzung mit dem Großvater Sven Stolpe (1905 bis 1996), der ebenfalls Autor war und als Kritiker aktiv in der schwedischen Literaturszene polarisierte. Dessen Tochter Lisette Stolpe erbt das Scharfzüngige, wird aber auch Opfer des vernichtenden Zorns und der Ungnade. Wie sie das prägt, schreibt Schulmann im Versuch, zu verstehen, wie sie in die Alkoholabhängigkeit geraten ist. Das Familiendrama prägt bis in die Enkelgeneration.

Gesellschaftliches Tabu

Mit dem Sarkasmus, den Alex Schulman noch vor 15 Jahren in seinem Blog zuweilen aufblitzen ließ, machte er sich in Schweden nicht immer Freunde. Heute zählt er zu den populärsten Autoren des Landes. Intensiv setzt er sich in seinen Büchern mit der eigenen Herkunft auseinander. Jedes Mal eröffnen sich Sichtweisen auf Zwischenmenschliches, die so virtuos aufgeschrieben sind, dass der Eindruck entsteht, emotional selbst dabei gewesen zu sein. Und er schreibt über ein gesellschaftliches Tabu, das er selbst zu spüren bekommt, zumal als er dieses gegenüber seiner Mutter Jahrzehnte später bricht.

Gewidmet ist das Buch den Brüdern Calle und Niklas. Mit Calle fährt er zu Anfang der Geschichte in das einsam am See gelegene Ferienhaus der Familie. Dort hat sich die Mutter verschanzt, um zu trinken. Erneut schneidet sie Alex den jüngsten Sohn, kommt zwar mit zurück in die Stadt, aber in getrennten Autos. Bis sie sich zu einer Therapie bereit erklärt, dauert es noch lang. Die Zerreißprobe hält an. Minuziös reflektiert Alex den gemeinsamen Weg.

Der Vertrauensbeweis, der Mutter seine kleine Tochter zu überlassen, während er mit seiner Frau ausgeht, endet in einem Fiasko. Das belastet auch die Beziehung zur Partnerin. Aber Alex bricht den Kontakt zur Mutter nicht dauerhaft ab, und der Leser atmet mit auf, als Lisette sich endlich auf eine Therapie einlässt, in eine Entzugsklinik geht. Auch hier steigt der Autor tief in eine Erzählung ein, die zeigt, wie komplex das Thema der Co-Abhängigkeit ist.

Zuversicht geweckt

Nie ist er ein Außenstehender, der den Psychologen etwa stereotype Fragen nach dem Wann und dem Warum beantworten könnte. Es ist auch seine Welt, sein Geschichte, wie die Trunksucht der Mutter das Familienleben zunehmend überschattete. Für die Brüder, die nur schemenhaft gezeichnet werden, könne es eine ganz andere Geschichte sein, schreibt er. Alex Schulman ist ein genauer Beobachter. Er fügt die Erzählstränge so, dass Einschnitte und Wendepunkte klar konturiert sind. Der bange Blick geht auf die sich zunehmend als problematisch entwickelnde Liebesbeziehung der Eltern — sein Vater Allan ist wesentlich älter als die Mutter.

Als TV-Produzent ist sein Tagesablauf in auf die Sekunde genau eingegrenzte Abläufe ausgerichtet, Spontanität ist ihm eine innere Qual. Hier kommt die Stärke der Mutter zum Vorschein, die als Moderatorin aus dem Stegreif wunderbare, tiefschürfende und einmalige Sätze sagt. Das hat sie offenbar dem Sohn vererbt, denn keines seiner Bücher gleicht dem anderen, mögen sie auch alle eng um die Herkunft, den Weg, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kreisen. Schulmans Sprache ist archaisch. Sie erklärt das Innerste, ohne sich in Analysen zu verheddern. Ein Buch, das trotz der Schwere die Zuversicht weckt.  

Buch des Jahres

Die schwedische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Glöm mig“ erstmals 2016 und bedeutete Alex Schulmans schriftstellerischen Durchbruch. Sie wurde 2017 in Schweden zum „Buch des Jahres“ gewählt und war Nr. 1-Bestseller. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans in deutscher Übersetzung, „Die Überlebenden“, im Jahr 2021 hat der schwedische Erzähler mit jedem weiteren Buch neue Leser im deutschsprachigen Raum gewonnen. In seiner Heimat zählt der Schriftsteller, Theaterautor, Zeitungskolumnist und Podcaster mittlerweile zu den erfolgreichsten Romanciers.

Alex Schulman: Vergiss mich. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz, dtv, 256 S., 23 Euro.