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Kölner Autorin Bettina FlitnerNeues Buch erinnert an eine zerbrechliche Mutter

5 min
Bettina Flitner

Bettina Flitner

Ihr sensibler Blick für Stimmungen und Zeitrahmen macht das Werk der Kölner Autorin und Fotografin Bettina Flitner so besonders. 

Die Fotografin und Autorin Bettina Flitner berührt ein Tabuthema, den Freitod. Schon als vor zwei Jahren ihr erstes Buch „Meine Schwester“ erschien, legte sie Schicht für Schicht offen, was es mit einem macht, wenn ein nahestehender Mensch nicht mehr leben will. Da werden Fragen in Gang gesetzt: Gab es Andeutungen und Hinweise? Und dann ist da der Schockmoment, indem es wirklich passiert. Im Fall ihrer Mutter, die sich mit 47 das Leben nimmt, verdrängt die junge Tochter die Situation des Suizids, erscheint bei der Beerdigung im Punkerlook, in Protesthaltung, cool.

Die Erinnerung packt sie Jahrzehnte später, als sie im Rahmen einer Lesung nach Celle kommt, wo die Mutter im Familiengrab beigesetzt ist, und sie diese dort nach 39 Jahren besucht. Auch im neuen Buch „Meine Mutter“ kommt etwas zum Tragen, das diese Autorin so einzigartig macht: Flitner ist Fotografin mit einem sensiblen Blick für Stimmungen und den Zeitrahmen, in denen eine Aufnahme entstanden ist. Dort setzt sie mit messerscharfen Beobachtungen an, verwendet quasi Silbergelatineprint als Skizzenbuch für ein späteres Gemälde.

Suizid ist in der Familie kein Einzelfall

Wie zum Beispiel bei den 26 Fotos einer Serie, die ihre Mutter zwei Jahre vor deren Tod zeigt: „Meine Mutter posiert, aber es ist deutlich zu erkennen, was für eine Mühe sie das kostet. Sie schaut die Fotografin nicht an, sie schaut durch sie hindurch. Meine Mutter sitzt auf einem Stuhl, sie steht auf einer Terrasse, sie lehnt an einer Wand. Aber sie hat keinen Halt. Auf keinem der Fotos scheint sie da zu sein. Sie sieht aus, als sei sie der Welt und sich selber verloren gegangen.“

Flitner schaut auf die Zeit, auf historische Ereignisse, Krieg und Flucht, leistet eine Erinnerungsarbeit, ergründet, was die Familie prägte. Auch die Urgroßeltern starben unter Umständen, die auf Suizid hindeuten. Es ist in der Familie kein Einzelfall und war bei jedem Familientreffen Thema. Bettina Flitner geht in der Zeit zurück, weit zurück, taucht in eine ferne Welt ein, in der ihre Mutter als Kind aufwuchs — in Wölfelsgrund, Niederschlesien, wo die Familie über Generationen ein Sanatorium betrieb. Für ihre Recherchen reist die Autorin in das heutige Polen. Wölfelsgrund an der Wölfel, oder Międzygórze, wie es heute auf Polnisch heißt, ist ein kleiner Kurort tief in den Bergen des Glatzer Berglandes und gehört heute zur Gemeinde Habelschwerdt. Die Architektur der in Blockbauweise errichteten Holzhäuser blieb erhalten, oft im reich verzierten und pittoresken Schweizer Stil. Imposant liegt das Sanatoriumsgebäude und es gibt ein separates Doktorhaus.

Bettina Flitner spürt dort auch die Geschichte ihre Familie mütterlicherseits auf: „Das Sanatorium, 1884 vom Herrn Sanitätsrat erbaut, meinem Ururgroßvater Heinrich. Ein großer, alter verschachtelter Bau aus Holz und Stein, mit Türmen, Giebeln und Erkern, Holzbalkonen, Wintergarten. Alles mit gedrechselten Säulen und Schnitzereien verziert. Davor zwei Teiche mit einem sprühenden Wasserstrahl. Genau wie auf den alten Postkarten. Unverändert.“ Es war ein Ort der Kindheit ihrer Mutter Gila, der ziemlich weit ab von den Umbrüchen in Berlin zu liegen schien. Doch auch in dieses Idyll bricht das NS-Regime ein, werden Menschen zu Mitläufern.

Tiefe Wunden gerissen

Wendehälse wie der Postmeister Hermann Lachnit sind der Mutter intuitiv ein Dorn im Auge. Dieser ist Ortsgruppenleiter in Wölfelsgrund, wird sein Fählein aber schon bald nach dem Krieg schwenken, wenn er den neuen polnischen Kommandanten empfängt. Dem Friseur Schubert spielt sie einen Streich, indem sie ihm überzeugend erzählt, der Führer werde Wölfelsgrund noch am selben Tag besuchen – er wartet vergeblich. Juden wie Ida Benjamin suchen vor den Nazis im Sanatorium Schutz, denn irgendwie scheint sie dort eine von Berlin weithin abgeschottete Welt zu vermuten. Doch das trügt. Großvater Api wird denunziert, Ida Benjamin stirbt später in Theresienstadt. In den letzten Kriegswochen wendet sich das Blatt, als Ende Juni 1945 das polnische Militär das Sanatorium beschlagnahmt. Alle Kranken müssen raus, Großvater Api hält noch seine Praxis im Doktorhaus.

Lange zögert die Familie die Flucht hinaus, die 1946 dramatisch wird. Flitner versetzt sich in die Mutter als Kind, „Sie war acht Jahre alt, als ihr Leben auseinanderbrach“, und aus eigener Erfahrung, die die Autorin mit ihrer Mutter sammelte, weiß sie, wie tief die Wunden gesessen und nachgewirkt haben dürften: „Sie ist es immer geblieben: dieses zerbrechliche Mädchen, um das man sich kümmern musste.“ Gleichzeitig schildert sie den Mut der Mutter, bei der sich früh Widerstand gegen Sanatoriumsbesucherin Dora regt, die Großvater Api sehr zum Leidwesen der Mutter, Ami, zu nahe kommt. Das Kind lässt die Konkurrentin, die gute politische Beziehungen hat und für die Familie auch später noch eine Mentorin ist, ihre Ablehnung spüren: „Wir wollen heute mal alleine essen.“

Autorin nimmt im Buch Abschied

Das Selbstbewusste schimmert bei der jungen Frau immer wieder durch, die Rolle als Ehefrau und Mutter nimmt sie allerdings in Beschlag, so dass eigene Wünsche hintanstehen müssen. Noch als die Kinder klein waren, führten Flitners Eltern eine offene Beziehung: „Mein Vater hatte damit angefangen, er hatte als erster ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Ich erinnere mich an die Verzweiflung meiner Mutter, als sie zum ersten Mal auftauchte, Frau Tasch. Das war 1968, neun Jahre nach der Hochzeit.“

Die Mutter leidet unter der Situation, wird auch Liebhaber haben. Sie hat immer wieder schwierige Phasen, die die Tochter mit ihr erlebte und nachträglich zu verstehen versucht. Flitner ist versöhnlich, lässt den Besuch der Mutter auf Sylt noch einmal Revue passieren, nimmt im Buch gleichzeitig Abschied und entwickelt einen neuen Blick, der aufrüttelnd und tröstlich zugleich ist.

Bettina Flitner: „Meine Mutter“, Kiepenheuer & Witsch. 320 S., 24 Euro. Am 7. Oktober, liest Bettina Flitner um 19.30 Uhr im Literaturhaus.