DDR-Grenzöffnung am 9. NovemberSchabowski und die rot gekritzelten Buchstaben

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Günter Schabowski auf der mittlerweile historischen Pressekonferenz.

Günter Schabowski bei der historischen Pressekonferenz in Berlin.

  • 30 Jahre ist der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 fast auf den Tag genau her.
  • Der Mauerfall wurde zum historischen Ereignis, war aber eigentlich ein historisches Versehen.
  • Die Redaktion blickt auf die Geschichte der Wiedervereinigung, die mit drei dahin gekritzelten Worten begann.

Berlin, 9. November 1989, 23.30 Uhr: Die überforderten Wachposten geben angesichts der Menschenmassen nach und öffnen - weil sie keinen Befehl der DDR-Führung erhalten - die Grenze. Tausende strömen gen Westen und verlassen die DDR. Die Mauer, die die Republik zuvor mehr als 28 Jahre lang trennte, ist plötzlich Geschichte. Wie konnte das passieren? Am Anfang der Entwicklungen dieses Tages stand ein schlichter Zettel.

Auf dem krakelig mit Kugelschreiber beschriebenen Blatt, mit dem der SED-Funktionär Günter Schabowski viereinhalb Stunden vor dem Mauerfall in eine Pressekonferenz zum Zustand der DDR ging, lässt sich auf den ersten Blick nur wenig entziffern. Entscheidend sind drei rot markierte Worte im letzten Abschnitt, die ein an diesem Tag beschlossenes neues Reisegesetz betrafen: „Verlesen Text Reisegesetz“.

Ein historisches Versehen des eloquenten Schabowski

Erst am Morgen war vom hochrangigen SED-Funktionär Gerhard Lauter, Oberst der Volkspolizei, ein neues Gesetz zur Reisefreiheit verfasst und wenig später vom SED-Zentralkomitee beschlossen worden. Am Nachmittag drückte Staatsratsvorsitzender Egon Krenz das Papier zum Reisegesetz Schabowski in die Hand. Ohne das Dokument zu lesen, steckte dieser es in die Tasche und machte sich auf dem weg zur Pressekonferenz die drei Stichworte auf seinem Notizblatt.

Das Reisegesetz

Günter Schabowski (1929 - 2015) war in der Zeit von 1978 bis 1985 Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ und anschließend bis 1989 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin. Bei der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 im internationalen Pressezentrum der DDR stellte er ein neues Gesetz zur Reisefreiheit vor. Demnach sollten Privatreisen ins Ausland künftig ohne Vorliegen von Voraussetzungen möglich sein. Geplant war ebenfalls, dass Visa-Anträge zur ständigen Ausreise vereinfacht zugänglich gemacht werden. Für das Reisegesetz galt jedoch eine Sperrfrist: Es sollte erst am 10. November verkündet werden. Darüber hinaus sollten DDR-Bürger erst ab diesem Tag Anträge stellen können, frühestens vor Weihnachten waren die die ersten Genehmigungen vorgesehen.

53 Minuten nach Beginn der Pressekonferenz hatte der italienische Journalist Riccardo Ehrmann dann eine Frage zum Reisegesetz und so stammelte Schabowski in Unkenntnis des Inhalts: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

Eher untypisch für Günter Schabowski, wie Hanno Hochmuth vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam findet: „Er war eigentlich einer der eloquentesten. Vom Beschluss hatte er aber einfach nichts mitbekommen.“ Dass eine Sperrfrist für das neue Gesetz galt und Reisen nur unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht werden sollten, ging dabei vollkommen unter - ein historisches Versehen mit weitreichenden Folgen.

Und so ging gegen 19 Uhr ein Raunen  durch das internationale Pressezentrum in Ost-Berlin. „Ab wann?“, „Ab sofort?“, „Wann genau?“ - ein nur schwer verständliches Stimmengewirr prasselte auf Schabowski ein, bis er schließlich jene zwei berühmten Halbsätze stammelte: „Das tritt ... nach meiner Erkenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Agenturmeldungen überschlagen sich

Nach der Pressekonferenz ging es Schlag auf Schlag: Die amerikanische Nachrichtenagentur AP meldete bereits um 19.05 Uhr „DDR öffnet Grenze“, das deutsche Pendant DPA um 19.41 Uhr „Die DDR-Grenze ... ist offen“. Schon um 20.15 Uhr haben sich laut Lagebericht der Ost-Berliner Volkspolizei insgesamt 80 Ost-Berliner an den Grenzübergängen Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Heinrich-Heine-Straße eingefunden.

Etwas mehr als eine Stunde später, um 21.30 Uhr, waren es an der Bornholmer Straße schon 500 bis 1000 Menschen. Um 22.42 Uhr, also etwa eine Stunde vor Öffnung der Grenze, verkündete Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren - dieser 9. November ist ein historischer Tag: Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore zur Mauer stehen weit offen.“

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Diese Berichterstattung habe extreme Fakten geschaffen, wie Hanno Hochmuth befindet: „Die Medien haben die historische Wirklichkeit vorweg genommen und so eine selbsterfüllende Prophezeiung geschaffen.“ Erst nach den Meldungen sei es zum Massenansturm auf die Mauer gekommen. „Schabowskis Zettel“ sieht Hochmuth daher und vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse nicht als Grund, sondern als Auslöser für den Mauerfall an.

Grenzöffnung bahnt sich durch sowjetische Politik bereits an

Das Ende der DDR habe sich in den Monaten zuvor nämlich schon angebahnt: Massenflucht, Mangelwirtschaft, Gorbatschows Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) in Moskau und schließlich die Absetzung von Erich Honeckers nach 18 Jahren an der Machtspitze der DDR am 18. Oktober 1989 - ohne diesen geschichtlichen Kontext wäre die Pressekonferenz am 9. November anders ausgegangen, wie sich Hochmuth sicher ist.

„Schabowskis Zettel“ sei indes ein schönes Beispiel für die Bedeutung von Zufall in der Geschichte, so Hochmuth. „Viele denken ja, das sei von langer Hand geplant gewesen; ich glaube das ist alles Unsinn. Die historischen Protagonisten haben einfach nach und nach die Kontrolle verloren.“ Ähnlich hat das auch Günter Schabowski selbst bewertet, der 2009 in einem Interview sagte: „Mir war in dem Augenblick damals nicht bewusst. dass das den Punkt markierte. an dem sich die Teilung der Welt aufzulösen begann.“

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