Intendant Kay Voges inszeniert einen träumerischen Theaterabend im Schauspiel Köln voller Multimedialität und unausgesprochener Geschichten.
Ein Auftakt ohne WorteKay Voges legt mit „Imagine“ einen faszinierenden Start hin

Eine Szene aus „Imagine“ am Schauspiel Köln.
Copyright: Marcel Urlaub
Vorhang auf für die Doppel-Premiere: Spielzeiteröffnung im Schauspiel Köln und gleichzeitig das erste Stück, mit dem sich Neu-Intendant Kay Voges vorstellt.
Besagter Vorhang öffnet sich für ein Dorf: In der Mitte eine Kirche, links und rechts Gebäude, in denen gewohnt und gearbeitet wird. Darüber schweben zwei große Leinwände, die in den folgenden 105 Minuten Live-Bilder einer Kamera zeigen, die auf einer Schiene die Szenerie umkreist und dabei auch in die Häuser hinein- und wieder hinausfährt und des Weiteren den Blick auf und in andere Gebäude auf der Bühnenrückseite gewährt.
Man kann nicht die ganze Welt begreifen. Haben Sie keinen Stress, genießen Sie den Abend.
Die Kamerafahrt beginnt jeweils auf der linken Bühnenseite, zeigt immer wieder andere Menschen in einem Schlafzimmer: eine junge Büroangestellte, zwei Männer nach dem Sex, eine Geschäftsfrau, die ihre Brust auf Knoten abtastet, einen Mann mit einem blutigen Messer, der sich später als Metzger entpuppt. Eine andere junge Frau trägt einem älteren Mann Salbe auf einen Ausschlag.
Aus diesem Schlafzimmer treten die Figuren heraus ins Dorf, treffen dort andere Personen: einen Priester, der vor seiner Kirche steht, eine ältere Frau, die das Dorfleben durch das Fenster ihres Wohnzimmers beobachtet, eine Frau, die von einer Reise zurückkehrt. Die Kamera auf ihrem Rundkurs zeigt die Kirche von innen, eine Frau in einem Gewächshaus oder den Metzger am Grill.
Geschichten im Kopf
Sie grüßen einander, winken sich zu, interagieren. Und sprechen kein Wort. Und wie beim Ballett entstehen in diesem perfekt durchchoreographierten Abend Geschichten im Kopf. Man versucht automatisch, eins und eins zusammenzuzählen, die Leerstellen zu füllen, Vermutungen anzustellen, Fragen zu beantworten: Warum muss der Klempner, der von einem Mann für Sex bezahlt wird, das Geld in seiner Firma abgeben? Warum sieht der Priester aus wie ein teuflisch-eleganter Mafia-Gangster? Trägt die junge Frau eine Schuluniform oder ist das ein Britney-Spears-Zitat? Was will der Mann mit der Kettensäge im Schlafzimmer? Warum kommt ein alter Mann ums Leben, und warum wird seine Leiche auf der Straße liegengelassen?
Doch bei jeder Runde, die die Kamera dreht (an einer Stelle sind es sogar zwei), scheint sich ihr Blickwinkel zu verändern: Immer wieder tauchen neue Details auf. Oder hat man bei der ersten Runde vielleicht das tote Schwein, vor dem der Metzger sitzt, übersehen? Und loderten schon immer Flammen aus seinem Grill?
Basierend auf einem Traum von Voges
Kay Voges und Co-Autor Alexander Kerlin hatten in der Einführung vor der Vorstellung erzählt, dass die Idee aus einem Traum von Voges stamme: Darin hatte er ein Dorf gesehen, durch das Kameras fahren, und dazu erklang „Imagine“, die Friedenshymne von John Lennon und Yoko Ono.
Genauso sieht das Ganze auch aus: Wie ein Traum, in dem viel passiert, dessen Sinn man sich nicht erklären kann. Und wie so oft nach dem Aufwachen hat man auch nach dem Verlassen des Theaters einige starke Bilder im Kopf. Andere verblassen oder vermischen sich.
Von Edward Hopper bis David Lynch
Die Stimmung ändert sich zwischen der düsteren Klarheit von Edward Hopper und den schwül-schwülstigen Kino-Fantasien von David Lynch. Die für den Abend komponierte Musik von Tommy Finke sowie Songs von Depeche Mode oder Sigur Rós, sowie Versionen von „Personal Jesus“ (Depeche Mode) oder „Who by fire“ (Leonard Cohen) könnten sich auch auf einem entsprechenden Film-Soundtrack finden.
Mit einem Glockenschlag wechselt die Stimmung: Wir sehen dieselben Aktionen noch einmal, diesmal allerdings positiv gestimmt, fröhlicher, Mut machender. Sind die Dorfbewohner im ersten Teil noch argwöhnisch, misstrauisch bis missmutig, ist ihr Miteinander nun von Zugewandtheit geprägt.
Abend fällt in drei Teile
Doch im Nachhinein wird es schwierig, die verschiedenen Begebenheiten einer der beiden Versionen exakt zuzuordnen. An welcher Stelle ist der Alte wieder von den Toten auferstanden? Und wie kam es, dass er plötzlich in der Kirche wie ein Heiliger verehrt wird und zur Kommunion halluzinogene Pilze gereicht werden?
Weitere Glockenschläge leiten Teil drei ein und die Botschaft ist klar: Unter den Dorfbewohnern werden Uniformen verteilt, jeder muss sie tragen, ob man will oder nicht. Und während zuvor noch fröhlich zu Stromaes Hit „Alors on danse“ getanzt wurde, steht nun eine Choreographie zu harten Eletrobeats an - bis die Bombe fällt.
Überraschendes Finale
Im überraschenden Finale erklingt dann auch das titelgebende Lied, vorgetragen in einer Art und Weise, die die vielen roten Äpfel und das Plakat eines Disneyfilms, das versteckt in einer Gasse des Dorfes hängt, vielleicht erklärt.
Oder auch nicht. Denn was hatte Kay Voges bei der Einführung vor der Vorstellung noch gesagt? „Man kann nicht die ganze Welt begreifen. Machen Sie sich keinen Stress, genießen Sie den Abend.“ Und das ist die richtige Handlungsanweisung: Intellekt aus, Fantasie an - die Begeisterung kommt für diesen gelungenen Spielzeitauftakt dann automatisch.
105 Minuten, wieder am 4. und 5.10. (Restkarten) sowie im Februar 2026.