Eine Rückbesinnung auf das Lied?Rückblick und Analyse der 65. Ausgabe des ESC

Italien hat mit dem rockigen Protestsong «Zitti e buoni» der Band Måneskin den Eurovision Song Contest in Rotterdam gewonnen.
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Rotterdam – Nein, nein, das ESC-Abendland wird nicht untergehen, der bunte Wettbewerb nicht auf ewig in den Schatten Mordors versinken. Das passierte schon 2006 nicht, als Lordi mit ihren Gummimasken gewannen. Oder als mit Dana International 1998 eine Transsexuelle siegte. Oder als 1974 Agnetha in Hotpants mit ihren ABBA-Kollegen die gesitteten Damen in bodenlangem Polyester in den Punkteschatten stellte. Alles wird gut werden, auch wenn sich heuer ein italienisches Stück NuMetal vor allem die Zuschauergunst förmlich erbrüllte.
Solche E-Gitarren befeuerten Ausbrüche gab es immer mal wieder, gerne aus dem hohen Norden: Islands Hatari kamen 2019 in Lack und Leder und versprühte Industrial-Charme, 2008 schickte Finnland eine Band, die klang, wie sie hieß: Teräsbetoni – Stahlbeton! Und auch in diesem Jahr erschrammelten sich die Finnen von Blind Channel einen satten sechsten Platz – und in der Zuschauergunst sogar Platz 4.
Jung, queer, rotzig und verletzlich
Aber warum sich gerade in diesem Jahr die Menschen in ganz Europa und zuvor schon Italien beim San-Remo-Festival auf Måneskin einschoss? Darauf gibt es keine Antwort, vor allem keine, in der das Wort Corona vorkommt.Aber das Quartett passt mit seiner Attitüde einfach gut in die Zeit: jung, queer, rotzig – und gleichzeitig verletzlich. Da kullern beim Gitarristen während der Punktevergabe doch tatsächlich Tränen. Und der langhaarige Drummer steht mit aufgerissenen Augen und in Schockstarre im Green Room, als Italien zum Sieger ausgerufen wird. Das macht einen nicht zum Fan des Songs, aber man gönnt es den Vieren, die sich jetzt auch noch mit Kokain-Vorwürfen herumschlagen müssen, statt einfach nur zu feiern.
Genauso hätte man es der erfrischenden Französin, dem verträumten Schweizer oder den nerdigen Isländern gewünscht. Und wenn diese 65. Ausgabe des Contests für eines gut war, dann vielleicht für eine Rückbesinnung auf das „S“ in ESC: Song. Auch wenn man nicht auf Heavy Metal steht, „Zitti e buoni“ ist innerhalb seines Genres eine authentische Angelegenheit – wie viele andere Beiträge. Großflächig abgestraft wurde hingegen oft, was allzu kommerziell zusammengezimmert daherkam. Und Deutschland? Der Ansatz war nicht verkehrt.
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Aber am Ende war es dann doch zu gut gelaunt, zu bunt – und zu wenig, was außer der Zeile „I don’t feel hate“ musikalisch im Ohr blieb. Bewundernswert allerdings Jendriks Souveränität, mit der er sich dem schlechten Ergebnis stellte. Zugegeben, er hatte während der Wochen vorher, als sein Lied bei den Buchmachern schon nichts riss, Zeit genug, sich aufs Unvermeidliche einzustellen. Aber das vor 220 Millionen Zuschauern durchzuziehen? Chapeau!
Seinen Hut nehmen sollte aber wirklich Peter Urban, zu oft wünschte man sich an diesem Abend (und auch schon früher), dass die „deutsche Stimme des ESC“ endlich mal die Klappe hält. Die ganze Zeit zu suggerieren, Jendriks Ergebnis sei eine Überraschung, war kaum zu ertragen. Ebenso sein Geplapper während der spannenden Punktevergabe. Vielleicht hat ja der Nachfolger oder die Nachfolgerin des scheidenden ARD-Unterhaltungskoordinators Thomas Schreiber ein Einsehen...