John Irving im Gespräch über die US-Politik, seine neues Buch „Königin Ester“ und seine literarischen Tattoos.
John Irving zu Trump und USA„Darum boykottiere ich mein Land“

US-Schriftsteller John Irving sitzt bei der Präsentation seines Romans „In einer Person“ im Garten.
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Mit dem Roman „Garp und wie er die Welt sah“ wurde John Irving, gerade erschien sein neuestes Buch „Königin Esther“. Im kommenden Jahr wird der gebürtige Amerikaner 84 Jahre alt. Im Gespräch mit Daniel Benedict erzählt er, wie er wurde, wer er ist.
Herr Irving, eine Zeit lang waren Bären ein Leitmotiv Ihrer Romane. Im neuen taucht schon wieder keiner auf. Was ist schiefgelaufen zwischen den Bären und Ihnen?
Die Bären waren für meine Leser immer wichtiger als für mich. Im Neuengland meiner Kindheit waren Schwarzbären ziemlich alltäglich. Heute lebe ich im Sommer auf einer kanadischen Insel, wo wieder Schwarzbären sind. Mit den Bären ist es ja so: Sie sind ungeheuer mächtig, man wittert ihre enorme Präsenz – aber sie lassen sich nicht blicken. Und in diesem Sinn ist meine Hauptfigur der Bär im neuen Buch: Esther geht als einflussreiche Zionistin ins gelobte Land, verschwindet dafür aber aus ihrer Familie. Und über weite Teile auch aus dem Roman. Sie verbirgt sich. Sie ist ein Geheimnis. Trotzdem ist sie allgegenwärtig. Und wenn sie auftaucht, dann nehmen Sie sich in Acht!
Esther lässt sich ihr Lieblingszitat aus Brontës Roman „Jane Eyre“ quer über die Brust tätowieren. Haben Sie selbst ein literarisches Tattoo?
Auf dem einen Arm habe ich einen Pottwal und die letzten Worte aus „Moby Dick“: „Only found another orphan“. Auf dem anderen Arm steht der Schluss meines eigenen Buchs „Gottes Werk und Teufels Beitrag“: „Princess of Maine, Kings of New England“. Hier am Bildschirm ist es schlecht vorzuführen. Es steht kopf. Wenn Sie es lesen wollen, müsste ich einen Kopfstand machen.
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Mein Lieblingszitat aus Ihrem neuen Roman lautet: „Beziehungen, echte wie erträumte, lassen uns nicht mehr los – das, was zwischen zwei Menschen geschieht, genauso wie das, was hätte geschehen können.“ Gehört auch eine nicht gelebt Beziehung zu meinem Leben? Tragen Sie selbst unverwirklichte Wünsche mit sich herum?
Eigentlich bin ich der geworden, der ich sein wollte, obwohl es unwahrscheinlich war. Als ich mit 15 Jahren Dickens’ „Große Erwartungen“ las, wusste ich nicht nur, dass ich Romancier werden wollte. Ich wusste, dass ich ein Romancier wie Dickens sein wollte, ein Geschichtenerzähler des 19. Jahrhunderts. Es brauchte dann vier Bücher, bis ich davon leben konnte. Vorher hatte ich Vollzeitjobs, aber mit „Garp und wie er die Welt sah“ wurde ich Ganztagsautor. Es gibt kein imaginiertes Leben, das ich nicht verwirklichen konnte. Ich bin ein Glückspilz. Ich habe mit einer glücklichen Kindheit angefangen und bin immer noch glücklich.
Aber auch glücklich kann man ja immer nur ein Leben leben. Alle anderen Möglichkeiten bleiben unverwirklicht.
Ich denke, wenn Sie eine Familie haben, die Sie lieben, und eine Arbeit, die Ihnen Spaß macht, dann ist es gut. Dann haben Sie die Kraft, auf Menschen zu schauen, die weniger Glück hatten. Viele meiner Freunde hatten in ihrem Leben mehr Hindernisse und Schwierigkeiten. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum ich mich in so vielen meiner Romane zum Verbündeten von Figuren gemacht habe, die anders sind als ich.
Mit wem haben Sie sich denn verbündet?
Ich war immer Verfechter der Frauenrechte. Meine Mutter hat als Krankenschwester unverheirateten Schwangeren geholfen, schon als Abtreibung noch verboten war. Nicht wenige waren unter dem legalen Alter für Sex. Wenn meine Mutter von der Arbeit kam, war sie oft wütend. Frauenrechte waren schon vor dem Schreiben in mir. Ich hatte auch Zwillingsgeschwister, die homosexuell waren. Schon früh wusste ich, dass ich in der Kleinstadt Angst um sie haben musste. Deshalb gibt es so viele queere Figuren bei mir. Und als ich mit 15 Jahren auf ein internationales Internat ging und mit dem Ringen anfing, traf ich zum ersten Mal schwarze und jüdische Kinder und hörte von Erfahrungen, die ich selbst nie machen musste.
Ihr neues Buch greift das Kennedy-Attentat auf. Was machen Sie aus der politischen Gewalt, die Amerika jetzt wieder prägt? Charlie Kirk starb bei einem Attentat, Trump hat eines überlebt, die Abgeordnete Melissa Hortman und ihr Mann wurden erschossen und dem Ehemann von Nancy Pelosi wurde der Schädel eingeschlagen.
Ich schreibe nicht über die Gegenwart, weil wir noch nicht genug darüber wissen. Das heißt aber nicht, dass ich politisch nicht aktiv wäre. Aus Protest gegen den autoritären Faschisten im Weißen Haus werde ich auf meiner Lesereise dieses Mal nicht das Land besuchen, in dem ich geboren wurde – das gab es noch nie. Aber in den Händen dieses Diktators erkenne ich mein geliebtes Land nicht wieder, es ist ein totalitäres Regime. Für mich ist unbegreiflich, wie die Demokratie derart niedergetrampelt werden konnte. Dieser Kerl hat Amerikas engste Verbündete vor den Kopf gestoßen, in Kanada, in Mexiko, in Europa. Dass der Faschismus auch in Europa ein Comeback feiert, wissen wir ja schon seit einiger Zeit. Trotzdem erschüttert es mich zu sehen, mit welchem Tempo und wie ungebremst Trumps Faschismus wuchert.
Trump faschistisch zu nennen, ist sehr anfechtbar. Man kann ihn immer noch abwählen.
Trump weitet seine exekutiven Befugnisse in einer Weise aus, die die US-Verfassung nicht erlaubt. Die sogenannten Gesetzgeber im US-Repräsentantenhaus und im US-Senat wissen, dass er seine Befugnisse überschreitet und sie lassen es zu. Die feigen Republikaner sind mit ihrem Schweigen mitverantwortlich. Wir leben in sehr schlechten Zeiten. Es macht mir keinen Spaß, mein Land zu boykottieren, es gibt dort viele Menschen, die ich liebe. Ich vermisse mein Heimatland, gerade, wenn ein neuer Roman erscheint. Aber ich werde nicht hingehen. Amerikanische Journalisten können mich gern in Toronto besuchen, jeder kann über Zoom mit mir sprechen. Aber ich will ein Zeichen setzen und fahre nicht hin.

Für immer Moby Dick: John Irving und sein Tattoo des letzten Satzes. Die Unschärfe des Bildes ist der Tatsache geschuldet, dass es sich um einen Screenshot handelt.
Copyright: Zoom/Daniel Benedict
Wie erleben Sie die Stimmung in Kanada? Trump belastet die Beziehungen ja nicht zuletzt mit seiner Idee, das Land zum 51. Bundesstaat zu machen.
Im Februar, kurz nach Beginn von Trumps zweiter Amtszeit, habe ich mit meiner alten Freundin und Schriftstellerkollegin Margaret Atwood Mittag gegessen. In Kanada fühle ich mich immer noch als Neuankömmling. Ich wollte nachhaken, ob mein Eindruck stimmt: Täusche ich mich oder waren die Kanadier in ihrer Ablehnung der Vereinigten Staaten noch nie so einig wie jetzt – nicht mal während des Vietnamkriegs? Da hat sie mich nur angesehen und geantwortet: Natürlich stimmt das. Und das ist traurig. Kanadier haben nichts gegen Amerikaner. Aber jeder, dem die Demokratie am Herzen liegt, muss Donald Trump ablehnen.
Elon Musk sagt: „Empathie ist die Schwäche der westlichen Zivilisation.“ Was sagen Sie dazu? Einfühlung ist Ihr Handwerkszeug.
Eine Regierung ohne Mitgefühl ist eine Autokratie. So einfach ist das. Wenn der Roman des 19. Jahrhunderts immer mein Vorbild war, dann wegen seiner Empathie, wegen seines sozialen Gewissens. Empathie ist auch der Grund für meine Esther-Geschichte. Mir ist sehr bewusst, dass es im Moment einen starken Mangel an Empathie für Zionisten gibt, für die Juden, die den Staat Israel gegründet haben. Deshalb habe ich mir Esther ausgedacht. Um den Lesern die Frage zu stellen: Wenn Sie das wären, würden Sie nicht dasselbe tun, was sie tut? Wenn man vom Antisemitismus nicht völlig verblendet ist, muss man das mit Ja beantworten. Sie merken schon: Ich würde lieber über „Königin Esther“ sprechen als über die gegenwärtige Politik.
Eine Figur im Roman wird im Lauf der Geschichte zum Schriftsteller: Jimmy. Über sich selbst sagt der: „In mir steckt mehr Fiktion als Realität.“ Ist das auch Ihr Lebensgefühl?
Jimmy ist nicht der erste Schriftsteller in meinen Büchern. Ich beschreibe nicht buchstäblich autobiografische Erfahrungen, ich übertreibe und verändere die Geschichte. Was aber gleich ist: Als Schriftsteller lebt man mehr mit seinen ausgedachten Figuren, als man im richtigen Leben präsent ist. An der Uni galt ich als Tagträumer. Und schon meine Mutter hat immer gefragt: ‚Hallo, wo bist du?‘ Ich saß am Esstisch und habe nichts zum Gespräch beigetragen. Wenn ein Footballspiel lief, habe ich woanders hingeschaut. Schriftsteller sind Außenseiter. Jimmy hat eine angeborene Fremdheit in sich, die ich teile. Ich habe mich immer wie jemand gefühlt, der nicht ganz dazugehört. Ich wurde in New Hampshire geboren, ich war da in der Schule. Trotzdem fühlte ich mich wie ein Fremder an dem Ort, von dem ich kam. Ich beobachte, ohne teilzunehmen oder etwas beizutragen.
War das immer so?
Als ich in Wien an der Uni war, zum ersten Mal in einem anderen Land, da fühlte es sich anders an. Ich kämpfte mit der Sprache, ich kannte mich in den Straßen nicht aus, jeder sah, dass ich nicht von hier war. Und auf einmal fühlte ich mich nicht nur wie ein Fremder, ich war wirklich einer. Und da dachte ich: Hier gehöre ich hin. Für einen Schriftsteller bleibt das immer so. Im März werde ich 84 Jahre alt. Immer noch wünschen mir Menschen, die mich seit Jahren kennen, am Freitag ein schönes Wochenende. Meine Frau und Kinder sagen das nie. Weil sie wissen, was ich am Wochenende tue. Dasselbe, was ich an jedem Tag der Woche tue. Es gibt kein Wochenende und ich nehme keinen Urlaub.
