Knallharte Kritik aus SchrottDiese Kunstwerke lohnen den Besuch der documenta

„Return to sender“ heißt die aus Altkleiderballen bestehende documenta-Installation.
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Nie wieder Müllschlucker: „Return to sender“: The Best Collective aus Kenia macht aus dem Postvermerk einen Werktitel, der wie die klare Ansage Afrikas an die Industrieländer klingt. Behaltet, was ihr ausrangiert habt! Das Künstlerkollektiv stellt in der Kasseler Karlsaue zur Schau, was wir reichen Nordeuropäer aus dem Blickfeld haben wollen: Altkleider, Metallteile, Elektroschrott.
Knallharte Kritik an globalen Warenströmen
Die Künstler haben den Kram zu Quadern gepresst und zur Skulptur verstapelt. Was von Weitem so schön bunt aussieht, ist in Wirklichkeit knallharte Kritik an globalen Warenströmen, die dafür sorgen, dass auf dem schwarzen Kontinent landet, was Reiche aussortiert haben. In dem Kubus aus Textilballen erklären Mitglieder des Kollektivs im Video zum Beispiel, dass Menschen sich würdevoll fühlen, wenn sie neue Kleider tragen können und nicht das, was andere abgelegt haben. Das trifft, wie diese ganze Installation in Sichtweite der Herrschaftsarchitektur der Orangerie. (Standort: Karlsaue).
Totentanz im Gotteshaus: Dieser Auftritt hat Wucht. Atis Resitanz, die wilde Künstlertruppe aus Haiti bringt die altehrwürdige Kirche St. Kunigundis zum Tanzen. Ob ausgeleierte Sprungfeder, umgekehrte Schiebkarre oder rostiges Rohr – die Kunstbastler aus Port-au-Prince erwecken den Schrott zum Leben einer düsteren Wiederkehr. Denn jede diese Skulpturen wirkt wie ein Doppelwesen aus Mensch und Dämon. Und manche fixieren einen mit ihrem leeren Blick aus den Augenhöhlen echter Totenschädel.
Diese Werke strahlen anarchische Kraft aus. Sie erzählen vom Tod und von jener Energie, die freigesetzt wird, wenn Kulturen sich kreuzen. Europas Kunst, Voodoo aus der Karibik, afrikanische Magie – die Hilfsbegriffe verblassen vor der Bildkraft dieser Montagen. Sicher, Schrottkunst gab es auch schon vor Atis Resitanz. Dennoch zeigt diese Gruppe eines der Highlights der documenta 15. (Standort: Kirche St.Kunigundis).

Das Wajukuu-Projekt.
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Haus aus Wellblech: Ihre Installation könnte eine der visuellen Signets der documenta 15 werden. Die Künstler des Wajukuu Art Project haben das Entree der documenta-Halle in einen düsteren Tunnel verwandelt, in den Besucher durch eine kleine Tür eintreten. Wellblech und Sackleinen kennzeichnen dieses Zitat der improvisierten Architektur der Elendsviertel von Nairobi.
Die Leute des Wajukuu Art Project haben ihren Projektraum jener prekären Welt abgetrotzt, die ihr Leben zur Hölle macht. Im Video erzählen sie, woran sie Mitglieder ihrer Gruppe verlieren: an Drogen und Kriminalität. Sie setzen Kultur dagegen, keine Kultur der Institutionen, sondern eine der mobilen Praxis, die vor allem Kinder und Jugendliche ermutigen soll. So zeigen sie in Kassel auch keine Kunst für Galerien, nichts, das ästhetisch innovativ wäre. Dafür zwingt das Wajukuu Art Project anders zu einem neuen Hinsehen – mit der rauen Schönheit rostigen Wellblechs und einer Skulptur aus lauter Messern. (Standort: Documenta-Halle).

Bodenrelief im Hotel Hessenland.
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Klage aus Klang: Das Hotel Hessenland wirkt, als träumte hier noch die alte Bundesrepublik ihren Wirtschaftswundertraum. Paul Bode, Bruder des documenta-Gründers Arnold Bode, hatte den Bau in der Kasseler City konzipiert. Seit Jahren steht das Hotel mit seinem Entree im Stil der Fünfziger und seinem Ballsaal leer. Die Kunst küsste ihn schon 2012 wach, als Tino Seghal zur documenta 13 hier eine Performance verwirklichte. Jetzt hat Madeyoulook, eine Künstlergruppe aus Südafrika den Ballsaal neu gestaltet – mit einem Bodenrelief und einer Klanginstallation. Besucher lagern sich auf den Reliefstufen, lauschen einer Klangwolke aus Stimmen, Rhythmus, Gesang, die sich zur Klage verdichtet über ein Land und seine Geschichte der Ungerechtigkeiten. Der Wohlstandstraum ist ausgeträumt, nun kommt hier der globale Süden wie eine lange verdrängte Gegenwelt zu Wort. (Standort: Hotel Hessenland).
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Das Gesicht der Zensierten: Tania Bruguera hätte es sich leicht machen, sich in den Jetset des Kunstbetriebes verabschieden können. Aber die kubanische Künstlerin setzte nicht auf ihren Status als Promi der Kunst. Sie engagiert sich in ihrer Heimat, kämpft für Freiheit und Bürgerrechte.
Jetzt haben sie und die Initiative Instituto de Artivisimo Hannah Arendt, kurz INSTAR, ihren großen Auftritt auf der Documenta. Die Gruppe, die 2015 mit einer hundertstündigen Nonstop-Lesung von Hannah Arendts Klassiker „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ von 1951 startete, bespielt jetzt mehrere Räume in der Documenta-Halle.
INSTAR dokumentiert dort die auf Kuba seit Jahrzehnten zensierten Künstlerinnen und Künstler, demonstriert, wie Kreative arbeiten, die sich als Aktivisten verstehen – indem sie sich mit Aktionen aktiv in die Politik einmischen und sie nicht ihren Funktionären überlassen. Ein vitaler Augenöffner, dieser Auftritt des neuen INSTAR-Gramm. (Standort: Documenta-Halle).