Der Ausnahmepianist Alfred Brendel ist in London gestorben. Seine pianistische Meisterschaft und sein schriftstellerisches Talent prägten die Musikwelt nachhaltig.
Ausnahme-PianistAlfred Brendel stirbt im Alter von 94 Jahren in London

Der Pianist Alfred Brendel ist tot.
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Die Sonaten seines Favoriten Ludwig van Beethoven spielte er in allen Lebenslagen und staunte, dass sie immer wieder anders klingen. Seine Entdeckerfreude war legendär. Nun ist der berühmte österreichische Pianist Alfred Brendel mit 94 Jahren in seiner Wahlheimat London gestorben. Das teilte die Agentur Maestro Arts mit, die den Musiker vertrat.
Skurrile Gedichte
2012 erlitt er einen Hörsturz und konnte sich auch dabei in Beethoven hineinversetzen. Er sei glücklich dran, erklärte er 2014 in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“, weil die Erkrankung bei ihm so spät gekommen sei. „Ich habe mich so weit wie möglich damit abgefunden, denn das Klavierspielen war nie der einzige Lebensinhalt für mich. Ich bin ja auch Schriftsteller, und zwar nicht bloß nebenbei“, erklärte er damals.
Brendel veröffentliche in seinem „Zweitberuf“ skurril-groteske Gedichte, in denen Musik und das Piano natürlich eine Rolle spielten. „Ein Finger zuviel“ hieß der erste Band, in dem es unter anderem um den imaginären dritten Zeigefinger geht, den der Pianist nutzt - um schwierige Passagen anzukündigen oder den Huster im Saal zu tadeln. In einem anderen Gedichte wird erzählt, wie der Verpackungskünstler Christo die „Drei Tenöre“ um den Balkon des Mailänder Opernhauses La Scala wickelt.
Bereits im Dezember 2008 hatte Brendel sich endgültig vom Konzertpodium verabschiedet. Seinen Kölner Abschied hatte er bereits im August zuvor genommen, als er mit dem Gürzenich Orchester unter Leitung von Markus Stenz Mozarts Klavierkonzert in c-Moll KV 491 spielte.
Heftpflaster an den Fingern
Der Pianist, der immer wieder mit abenteuerlichen Heftpflaster-Klebungen an den Fingern sein Publikum verblüffte, war ein feinsinniger Zeitgenosse. Von der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig besaß er ein Bild „Frühstück mit Ei“, dessen subtile Komik ihn wohl täglich erheiterte. Als der Münchner Galerist und Sammler Helmut Klewan es ihm für eine Millionen Pfund abkaufen wollte – er hatte es ihm ursprünglich für 75.000 Mark verkauft – entgegnete Brendel: „Klewan, ich danke dir, aber ich brauche kein Geld.“
Diese Anekdote gab Klewan 2021 bei einer Lassnigschau im Käthe-Kollwitz-Museum zum Besten. Gerne hätte der Musiker sein Bild aber gegen Lassnigs „Frühstück mit Ohr“ getauscht, da das besser zu seiner Passion passte. Aber Maria Lassnig wollte nicht.
Groß und hager, ein wenig nach vorne gebeugt, stets die altmodische dicke Brille auf der Nase – so kannte ihn sein Publikum. Kritiker lobten, er habe niemals extrem gespielt, immer mit dem rechten Maß. Der poetische Schalk saß Brendel im Nacken. Das machte ihn auch bei seinen Schülern beliebt, darunter Kent Nagano, der ihm in seinem Buch „10 Lessons of my Life“ ein Kapitel widmete: Brendel stehe für die Fähigkeit, sich einem Werk immer neu zu nähern. Seine Beethoven-Sonaten klängen in unterschiedlichen Lebensphasen immer anders.“
Brendels musikalisches Herz schlug immer für die deutsche Klassik und Romantik. Neben Beethoven spielte er vor allem Mozart und Schubert, sehr gern auch Franz Liszt, dessen pianistisch anspruchsvolle Klaviersonate in h-Moll ebenfalls zum Repertoire des Pianisten zählte. Eigentlich fast ein bisschen untypisch. Denn sein Rang als Jahrhundertpianist gründet sich nicht auf seine technischen Hexenkünste.
Kein Wunderkind
Ein Wunderkind war er auch nicht. Die Eltern des in Wiesenberg geborenen, in Zagreb aufgewachsenen Künstlers führten vor dem Krieg auf der Adriainsel Krk eine Urlauber-Pension. „Vor meinem fünfzehnten Jahr hatte ich noch kein Sinfoniekonzert, keinen Klavierabend und keine Opernaufführung erlebt. Sporadische Lichtblicke bot manchmal das Radio“, sagte er einmal.
Den ersten Klavierunterricht erhielt er mit sechs Jahren in Zagreb, erst mit 17 gab Brendel in Graz sein erstes öffentliches Konzert. Doch das Talent fiel auf. Sein wichtigster Lehrer sollte Edwin Fischer werden, dessen Interpretationskunst Brendel noch heute ebenso bewundert wie die von Wilhelm Kempff und Alfred Cortot. Trotz aller Seriosität am Piano - sein Humor als Autor war bemerkenswert.
Und machte selbst vor dem Tod nicht halt. „Falls man im Paradies immerzu Verdi hören muss“, schrieb er, „dann würde ich um Urlaub und um einen gelegentlichen Besuch in der Hölle bitten.“ (mit dpa)
Im Mai 2021, kurz nach seinem 90. Geburtstag, verlieh die Hochschule für Musik und Tanz Köln Alfred Brendel die Ehrendoktorwürde eines Dr. phil. h.c.. In der Begründung der Hochschule hieß es: „Insbesondere seine Beethoven- und Schubert-Interpretationen sind bis heute grundlegend, da es ihm in besonderer Wese gelang, sich immer wieder neu und in intensiver und akribischer Weise mit dem Notentext auseinanderzusetzen, ohne dabei einem schematischen Ideal von ,Werktreue“ zu folgen.“ Als Musikschriftsteller und Essayist verstehe er es in besonderer Weise, „wissenschaftliche Recherche, künstlerisches Wissen und Sprachkunst miteinander zu verbinden“.