Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Autor aus der RegionPosthum erscheint Dieter Kühns „Ausblicke vom Fesselballon“

4 min
Der Schriftseller Dieter Kuehn.

Der Schriftsteller Dieter Kühn.

Dieter Kühns posthumer Roman „Ausblicke vom Fesselballon“ thematisiert persönliche und gesellschaftliche Umbrüche der 1980er Jahre.

Dieter Kühn, einer der vielseitigsten deutschsprachigen Autoren, starb vor zehn Jahren, am 25. Juli, in Brühl. Begraben ist er auf dem Friedhof Melaten. Posthum ist nun sein letztes Buch „Ausblicke vom Fesselballon“ im Verlag S. Fischer erschienen. Es lohnt sich, zuerst das Nachwort seiner Lebensgefährtin Olga Zoller zu lesen.

Innere Disziplin

Das macht viele Passagen verständlich, die fragmentarisch, teilweise wie aus einer anderen Zeit wirken. Aber es schließt sich ein Kreis. Schon der erste Roman von 1971 hieß „Ausflüge im Fesselballon“. Kühn erfuhr mit 79 Jahren von seiner fortgeschrittenen, nicht heilbaren Krebskrankheit und musste sich von dem Gedanken verabschieden, einen Dante-Roman schreiben zu können. Der Gesundheitszustand macht es unmöglich, ein neues Buch zu schreiben, was mit Vorarbeiten und Übersetzungen verbunden gewesen wäre.

Stattdessen griff er zu einem Stapel von Typoskriptseiten und Handschriftlichem, was in der Schublade lag. „Gedacht als großer Roman, mit dem Dieter zurückblickte in eine Welt auf der Mitte der Zeitachse seines Lebens und am Rande von Köln“, schreibt Olga Zoller im Nachwort. Die Geschichte ist in den 1980er Jahren angesiedelt. Kühn arbeitete und überarbeitete daran akribisch bis zum Schluss. Zumal zum Ende hin, lässt sich der Kraftakt ablesen in Formulierungen, die von Schmerzattacken am Schreibtisch zeugen. Gleichzeitig wirkte der Bildschirm auf ihn besänftigend.

Die innere Disziplin schlägt sich in einem wunderbaren Sprachduktus, einer Melodie nieder, die zum Weiterlesen verführt. In einer beengten Etagenwohnung ohne Balkon am Schlangenpfad in Hürth lebt der Deutschlehrer Lothar Bremer mit seiner Frau Renate und der kleiner Tochter Moni. Die Ausblicke auf Bahndamm und Kraftwerk betrüben ihn, immer wieder zieht es ihn weg in kleinen Fluchten aus dem Alltag, der festgefahren zu sein scheint.

Ökologische Orientierung

Die Beziehung von Renate und Lothar ist gefährdet durch schlechte Gewohnheiten, die sich eingeschlichen haben. Aber auch durch häufige zeitliche Trennung. Renate geht als Übersetzerin häufig auf Dienstreisen und hat sich auf Fachtagungen einen Namen gemacht. Die Karriere soll keinen Abbruch durch einen unattraktiveren Job vor Ort haben. Die Ehe wird wiederholt als auslaufendes Modell in einer Zeit beschrieben, in der die Emanzipation zu neuen Frauenbildern führt.

Lothar, hoch engagiert und voller Ideen, aber frustriert, fühlt sich durch immer wiederkehrende Routine im Lehrerberuf nicht ausgefüllt. An Fließbandarbeit erinnern die Schilderungen der zähen Korrekturen, wie er die Stapel von links nach rechts abarbeitet. Dazwischen gibt es Seitensprünge, kleine Wochenendtrips nach Holland in das muffig riechende Ferienhäuschen eines Freundes.

Kühn formte ein Psychogramm aus einer Zeit, in der vieles im Umbruch war: Lothar besucht Veranstaltungen, informiert sich über Grundwasserabsenkung, ist politisch, findet Gleichgesinnte, gerät in eine Anti-AKW-Demo. Er ist sensibilisiert, dass der wirtschaftliche Aufschwung greifbar mit dem Abbaggern der Braunkohle einhergeht, was den Verlust von Landschaft und Lebensmittelpunkten mit sich bringt. Hier stellt sich ein spannender Bezug zur Gegenwart ein. Denn der Raubbau an der Natur ist Lothar schon zu einem frühen Zeitpunkt, lange vor „Hambi“ und Protesten gegen weiteren Asphalt und Versiegelung, bewusst.

Gleichzeitig spielt für ihn Mobilität eine wichtige Rolle, wie überhaupt bei Kühn das Autofahren immer eine Rolle spielt. Die Beobachtung einer Cabriofahrerin im Rückspiegel verdichtet sich zu einer Choreografie auf der Fahrbahn, offenbar passt das Beuteschema. Dann verlieren sich die Wege, es kommt nicht zum Treffen an der Raststätte, das sich Lothar schon ausgemalt hatte. Auch in seinem Roman über Oswald von Wolkenstein schildert Kühn eine Autofahrt, die geradezu auf das Unbekannte hinzuführen scheint, derweil der Fahrtwind durch die Scheibe flattert. Aufbruchstimmung stellt sich ein, als Lothar über den Vater eines Schülers das Angebot erhält, die Chronik über eine Baufirma zu schreiben.

Protokollierter Klang

Jäh endet sein Weg als Autor, als er bei der Recherche auf die NS-Verstrickung der Firma stößt und das Angebot ablehnt. Zermürbend ist die Beziehung zu einer VHS-Dozentin und Orchideensammlerin, die sich aus einer bedrückenden Bindung nicht zu lösen vermag. Trotz eigener Wohnung kehrt sie immer wieder in die altmodisch möblierten vier Wände zu ihrem ungeliebten Partner zurück. Lothar fühlt sich zurückgesetzt, als Mann für wenige Stunden. Es eskaliert am Ende in einem Gewaltausbruch.

Die Handlung in „Ausblicke vom Fesselballon“ hat häufig einen protokollierten Klang, ist sprachlich aber ein Genuss. Der Beobachter in Kühn bewegt sich in ruhigen, punktgenauen und sehr lyrischen Bildern, die es mehrfach zu lesen lohnt.

Dieter Kühn: Ausblicke vom Fesselballon, S. Fischer, 239 S., 24 Euro.