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StaatenhausDie letzten Tage der Menschheit als Oper

Lesezeit 6 Minuten
Nicolas Stemann, Komponist Philippe Manoury und Ko-Librettist Partrick Hahn im Staatenhaus.

Nicolas Stemann, Komponist Philippe Manoury und Ko-Librettist Partrick Hahn im Staatenhaus. 

Karl Kraus schrieb eine Tragödie mit 200 Szenen. Nun machte Philippe Manoury eine Oper daraus, unterstützt von Regisseur Nicolas Stemann und Ko-Librettist Patrick Hahn.

Karl Kraus hat den Ersten Weltkrieg in seiner Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ als unmittelbarer Beobachter in ganz vielen Facetten angelegt. Das Stück spielt zwischen 1915 und 1919. Wo stehen wir heute?

Patrick Hahn: Am Anfang sind wir dem Irrtum aufgesessen, wir müssten Karl Kraus ein Update verpassen, indem wir uns auf TikTok oder andere soziale Medien einlassen. Erschreckend war zu erleben, dass von Beginn des Projektes im Jahr 2019 an der Text von Karl Kraus uns jeden Tag immer nähergekommen ist.

Nicolas Stemann: Um die Frage, wie sehr sich die Situation vor dem Ersten Weltkrieg auf heute übertragen lässt, werden derzeit erbitterte Debatten geführt. Aber die Analogien sind teils erschreckend. Karl Kraus proklamiert einen unbedingten Pazifismus – er sagt: Krieg, egal in welcher Situation, gehört verdammt. Das ist heute wieder eine ähnlich umstrittene Position wie während des Ersten Weltkriegs. Wir haben uns entschieden, im ersten von zwei Teilen die historischen Bezüge herzustellen. Im zweiten Teil geht es in die Gegenwart.

Markante Zeitgenossen waren Kaiser Wilhelm II. und der einflussreiche Publizist Moritz Benedikt, den Kraus als „Urgesicht“ der Epoche angriff, das die Macht der Massenmedien repräsentierte. Kommen die beiden in der Oper vor, zeichnen Sie darin überhaupt Charaktere?

Hahn: Wenn man die Personen bei Kraus zählt, kommt man auf eine beinahe vierstellige Zahl. Es ist fast unmöglich, sie in den kurzen Momenten ihres Auftauchens auf der Bühne zu identifizieren.

Stemann: Das Surreale fand ich formal von Anfang an reizvoll. Ich habe das Stück schon öfter als Theaterinszenierung angeboten bekommen. Aber ich war immer skeptisch — da passiert so viel, es gibt großartige und sehr komplizierte Texte, immer wieder konterkariert von kabarettistischen Szenen, gar Volkstheater. Wie geht man damit um? Aber mit Philippe Manoury als Komponisten wusste ich, dass durch die Oper wahrscheinlich ganz Vieles auf verschiedenen Leveln möglich ist.

Sie haben sich für die Form eines „Thinkspiels“ entschieden. Wie funktioniert das?

Philippe Manoury: Dieser Begriff entstand bei der Komposition meines früheren Bühnenwerks „Kein Licht“, das ich ebenfalls in Zusammenarbeit mit Nicolas Stemann geschrieben habe.

Wie ließe sich „Thinkspiel“ übersetzen?

Manoury: Das Wort „Thinkspiel“ ist ein Echo des alten „Singspiels“ aus dem 18. Jahrhundert, in dem die Sänger auch sprechen mussten. Eine Koexistenz zwischen Theater und Musik mit gesprochener Sprache und Gesang. Ein Thinkspiel ist nicht nur für Stimmen, aber auch für den Kopf, für das Denken.

Und wie klingen „Die letzten Tage der Menschheit“?

Manoury: Ich hoffe, nach Manoury! Das heißt, eine opulente moderne Musik, die sich aber auch nicht von ihrer Geschichte lossagt und in der man vielleicht ab und an Anklänge an Debussy, Bartók oder sogar Wagner erkennt. Phasenweise wirken 175 Akteure und Musiker gleichzeitig mit – neben dem herkömmlichen Orchester gibt es elektronische Musik, die teilweise live generiert wird.

Karl Kraus bezeichnete sein Stück als nicht aufführbar. Sie haben nun eine Oper daraus gemacht. Wie gehen Sie vor?

Manoury: Ein feiner Unterschied: Karl Kraus schreibt in seinem Vorwort, es sei für Menschen nicht wahrnehmbar – weil die Menschheit am Ende seiner Tragödie untergegangen ist. Es war ein langer Prozess, der reine Kompositionsprozess hat mindestens drei Jahre gedauert. Nicolas und Patrick haben eine Reduktion des Stoffes vorgenommen und ihn für die Bühne bearbeitet – noch bis jetzt, in den Proben, auf denen Nicolas mit den Darstellern Vieles entwickelt. Das Stück hat nun zwei Teile: der erste, der zwischen 1914 und 1918 spielt – und der zweite, der das epische Theater der „Letzten Nacht“ und der Gegenwart zum Thema hat.

Anne Sofie von Otter singt den Angelus Novus. Es gibt ein gleichnamiges Bild von Paul Klee. Was zeigt es?

Stemann: Es ist ein bisschen paradox: Der Engel schaut nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, wird aber vom Wind aus der Vergangenheit in die Zukunft geweht und vor seinen Augen häufen sich immer schrecklichere Trümmer auf. Dieser Angelus Novus ist wie eine mahnende Stimme Teil der Inszenierung.

Karl Kraus lenkt den Blick auf die noch viel größeren Gräuel auf der Rückseite des Krieges. Das Stück lässt erstmals einen Einblick in jenes Getriebe zu, aus dem das Gift herausgewachsen ist, wie lässt sich das dramaturgisch umsetzen?

Stemann: Wir halten uns an die Gliederung von Kraus. Am Anfang steht das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau. Da ist wahrscheinlich eine Analogie zu heute: Alle kochen ihr Süppchen und denken, wir sind doch sicher in unserem Bündnis, da kann uns nichts passieren. Und einen Lokalkonflikt kann man kurz irgendwie mit militärischem Mitteln lösen – doch zack hat man auf einmal einen Weltenbrand. Das hat uns beim Schreiben des Librettos interessiert — diese Unbedarftheit, mit der eine Gesellschaft so am Rande der schlimmsten Katastrophe steht.

Dann man macht einen Schritt vorwärts ...

Stemann: Und es wird immer härter, nationalistischer, propagandistischer, immer verhasster. Da sind Blumenmädchen, die singen schrecklich fremdenfeindliche Dinge. Und bei der von Kraus beschriebenen Familie Wahnschaffe sieht man, wie eine Mutter ihre Kinder in den Krieg schickt. Bei allen unseren Diskussionen im Moment dürfen wir nicht vergessen, dass wir wieder darüber reden, Kinder in den Krieg zu schicken.

Was würde Karl Kraus zur heutigen Situation sagen?

Stemann: Kann man Frieden schaffen ohne Krieg? Das ist die große Frage. Ist es paradox, sie mit „Nein“ zu beantworten? Aber wenn man Frieden nur mit Krieg schaffen kann, dann gerade schafft man doch Krieg. Das sind Fragen, an denen Kraus wahrscheinlich seine Freude gehabt hätte. Unsere Premiere ist übrigens fast genau am Jahrestag des Attentats auf den Thronfolger (28. Juni 1914). Sind wir seither wirklich weitergekommen?

Einem Marstheater dachte Karl Kraus (1874 bis 1936) seine Weltkriegstragödie „Die letzten Tage der Menscheit“ zu, da sie mit über 200 Szenen über die menschliche Vorstellung hinausgeht. Im Verlag Jung und Jung ist das Buch mit Nachwort von Franz Schuh und einem Bericht von Thomas Traupmann gerade neu herausgegeben worden. Die Oper „Die letzten Tage der Menschheit“ ist eine Koproduktion mit dem IRCAM Centre Pompidou als Auftragswerk der Oper Köln an Philippe Manoury mit dem Libretto nach Karl Kraus von Patrick Hahn, Philippe Manoury und Nicolas Stemann. Die Uraufführung ist am 27. Juni, 18 Uhr im Staatenhaus. Wieder am 29. Juni, 4.,6., und 9. Juli.