Philippe Manoury komponierte ein "Thinkspiel" aus Gesang und gesprochenen Texten nach Karl Kraus.
UraufführungDie letzten Tage der Menschheit als Oper im Staatenhaus

Miljenko Turk als Soldat im Ersten Weltkrieg der Oper "Die letzten Tage der Menschheit"
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Karl Kraus schrieb vor über hundert Jahren eine Tragödie über die Bestialität des Krieges. Biestig ist auch sein Stück „Die letzten Tage der Menschheit“, das der Österreicher aufgrund der über 200 Szenen selbst als unspielbar bezeichnete. Allenfalls für ein „Marstheater“, für ein außerirdisches Publikum, sei es geeignet, das dem Auslöschen der Menschheit aus der Ferne zusieht.
Anne Sofie von Otter engelgleich
Der französische Komponist Philippe Manoury hat daraus nun eine Oper gemacht. Den Stoff dünnte er mit Regisseur Nicolas Stemann und Ko-Librettist Patrick Hahn auf eine Spiellänge von drei Stunden aus. Es ist immer noch ein Megaprojekt, das im Spannungsbogen aber nicht nachlässt, die Substanz wahrt und dem Sprachvirtuosen Kraus ebenbürtig ist.
Akkorde vom Ende der Menschheit durchziehen das Stück wie ein Präludium. Mit geradezu entrückender Schönheit lässt Manoury den Gesang des Angelus Novus schemenhaft anklingen. Anne Sofie von Otter fragt in dieser Rolle: „Was wächst der Krieg mir in meine Nächte?“ so intensiv, dass der Alptraum im Raum geradezu greifbar ist.
Das „Thinkspiel“, eine Mischung aus Gesang und gesprochenen Texten, wurde nun im Staatenhaus uraufgeführt und faszinierte durch seine eindringlichen Klangfarben für ein Bühnenstück, welches das facettenreiche Hauptwerk von Kraus sehr präsent und geradezu bestürzend aktuell macht.
Der Chor der Oper und das Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Peter Rundel leisteten mit den Solisten höchsten Einsatz in schnellem Wechsel von Hurrapatriotismus der Kaiserzeit zu ausgewählten, geradezu beklemmend echt wirkenden Szenen aus dem Kriegsinferno: Lazarettbetten und Särge fluten die Bühne, Menschen stieren verhärmt ins Leere – wie auf Kohlezeichnungen von Käthe Kollwitz. Katrin Nottrodt hält das Bühnenbild funktional und kühl wie im Serverraum.
Bleischwer und bildreich
Im Gegensatz zur klassischen Oper ist es ein klanglicher Dauerlauf, ein Taumeln ohne Melodie und Tanz. Bleischwer, bildreich und ergreifend. Durchaus zwiegespalten war die Reaktion des Publikums: An Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ reiche die Oper nicht heran, da sei die Messlatte zu hoch. Andere wiederum bewunderten, wie Manoury und seine Mitstreiter das seit 2019 laufende Projekt stemmten.
Denn wann, wenn nicht jetzt? In Tagen, in denen gerade „Bunkerbrecher“ und „Midnight Hammer“ im Sprachgebrauch auftauchten? Manoury liefert in Teil zwei seines „Thinkspiels“ akustische, computeranimierte Töne von Detonationen und bröckelnden Steinlawinen, bleibt aber immer nah dran am Urtext.
Kraus hat in seiner Darstellung des Ersten Weltkriegs viele Bilder beherzigt. Da ist die Mutter in ihrer Anklage an die Welt, der tote Wald, Flammenwerfer in den Schützengräben oder die Raben. Sie ernähren sich vom Krieg und den Opfern, sind Profiteure. Kraus warf seinen Blick nicht allein auf das Gemetzel, sondern auf ein Gräuel auf der Rückseite des Krieges: die Rädelsführer, Medienmogule wie den Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, die das Getriebe am Laufen hielten.
Hinreißend ist Ensemblemitglied Emily Hindrichs als Alice Schalek. Eine Kriegsreporterin, deren Unverfrorenheit, mit der sie Sterbende interviewt, Kraus eins zu eins in sein Stück übernommen haben dürfte. Er warf ihr „Kriegsverherrlichung“ vor und setzte ihr ein Negativdenkmal.
Ebenso grotesk, aber nicht erfunden: der Krieg als Kinderspiel. Dargestellt von den Sprechern Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg in der Szene von „Willichen und Mariechen“ aus der Familie Wahnschaffe. Angefeuert von der Mutter bekämpfen sie sich erbittert.
Wüstenroboter und Börsenbilanzen
Historische Fotos, Feldpost in Sütterlinschrift oder Schlagzeilen zu Kriegserklärungen oder Inflation macht Nicolas Stemann in seiner Inszenierung in Teil eins so gegenwärtig, dass es im zweiten Teil zu den dauerlächelnden Kriegstreibern mit MAGA-Kappe (Make Amerika Great Again) nicht weit ist.
Kriegsszenen aus Vietnam sind zu sehen, Wüstenroboter oder Börsenbilanzen, die zeigen, dass der Mensch nur ein kleines Rad ist, an dem viel stärkere Kräfte drehen. Philosophisch mutet die Frage „Kann man Frieden schaffen ohne Krieg?“ an. Genau das ist auch gegenwärtig wieder das Dilemma. Im Epilog kommen die ungeborenen Kinder zu Wort, die darum bitten, nicht in eine solch kriegerische Welt geboren zu werden.
Drei Stunden mit Pause, wieder am 4., 6. und 9. Juli.