Psychologin im InterviewWas tun, wenn Jugendliche sich selbst verletzen?

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Selbst zugefügte Schnittverletzungen am Unterarm

Selbst zugefügte Schnittverletzungen am Unterarm

Frau Wewetzer, bei Jugendlichen werden immer häufiger Selbstverletzungen beobachtet. Experten sprechen davon, dass sich inzwischen jeder dritte Jugendliche einmal im Leben selbst verletzt. Zwischen drei und fünf Prozent tun dies wiederholt. Können Sie diesen Trend bestätigen?

Ja, die klinischen Erfahrungen bestätigen dies ebenso wie neuste Studien. Dabei beobachten wir auch eine Zunahme von Selbstverletzungen bei jüngeren Jugendlichen und Kindern unter einem Alter von 13 Jahren.

Woran liegt das?

Die Ursachen für Selbstverletzungen sind grundsätzlich vielschichtig. Neben einer gewissen temperamentsbedingten Empfindlichkeit im Umgang mit Gefühlen und einem oft niedrigen Selbstwertgefühl spielen negative Erfahrungen in Schule, Familie und Gleichaltrigengruppe eine Rolle. Viele Jugendliche berichten über familiäre Schwierigkeiten oder Mobbing. Letzteres ist sicherlich durch die Bedeutung digitaler Medien noch intensiver geworden.

Welche Art von Verletzungen fügen sich die Jugendlichen zu?

Am häufigsten zu beobachten ist das Ritzen oder Schneiden der Haut mit spitzen Gegenständen wie Anspitzer oder Rasierklinge. Aber auch Verletzungen wie sich selber schlagen, kratzen oder verbrühen kommen vor.

Tun Jugendliche oder Kinder sich das an, um Aufmerksamkeit zu erregen, oder ist das eher ein ernst zu nehmender Hilfeschrei?

Hier müssen wir unterscheiden zwischen einzelnen, gelegentlichen Selbstverletzungen und solchen, die wiederholt, also an fünf oder mehr Tagen im Jahr, durchgeführt werden. Wiederholte Selbstverletzungen sind zunächst ein Anzeichen dafür, dass es dem Jugendlichen nicht gut geht. Die häufigste Funktion von selbst verletzendem Verhalten ist die Gefühlsregulation, das heißt die Selbstverletzung dient der Erleichterung von einem akut starken, negativen Gefühl und der Abschwächung von innerer Anspannung. Selbstverletzungen werden aber auch eingesetzt, um sich selbst zu bestrafen, um sich von anderen abzugrenzen oder um anderen zu zeigen, dass es einem schlecht geht. Sie können auch die Funktion haben, eine Reaktion der Umwelt zu provozieren. Allerdings sollte man die Gründe nie vorschnell auf ein "die macht das ja nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen" reduzieren. Das wird dem Leid der Betroffenen nicht gerecht. Wiederholte Selbstverletzungen sollten ernst genommen werden. Es sollte untersucht werden, ob sie in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung auftreten.

Welche könnten das sein?

Die häufigsten psychischen Erkrankungen, die im Zusammenhang mit selbst verletzendem Verhalten anzutreffen sind, sind die Depression und die emotional instabile Persönlichkeitsstörung, die sogenannte Borderline-Störung. Diese Jugendlichen erleben extreme, plötzliche negative Gefühle und innere Anspannungen, die sie mit dem Erleben von Schmerz zu regulieren suchen. Selbstverletzendes Verhalten geht aber auch gehäuft mit Problemen im Sozialverhalten, etwa aggressivem Verhalten, und mit Alkohol- und Drogenkonsum einher.

Wie oft steckt tatsächlich eine Absicht sich umzubringen hinter den Selbstverletzungen?

Zunächst einmal liegt selbst verletzendem Verhalten grundsätzlich keine suizidale Absicht zugrunde. Der Jugendliche verletzt sich, um Spannung abzubauen, sich selber zu spüren, nicht um sich umzubringen. Allerdings zeigen Studien, dass etwa die Hälfte oder mehr der Jugendlichen, die sich wiederholt selbst verletzen, bereits versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Insofern ist wiederholtes selbstverletzendes Verhalten als Risikofaktor für einen Selbstmordversuch zu werten.

Wie sollten Eltern auf Selbstverletzungen ihres Kindes reagieren?

Sie sollten die Selbstverletzungen nicht ignorieren, sondern offen mit ihrem Kind ansprechen. Bei wiederholten Selbstverletzungen empfiehlt sich die Kontaktaufnahme mit einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, um abzuklären, ob und wenn ja welcher Behandlungsbedarf besteht. Leider nehmen bislang nur etwa zehn Prozent der Betroffenen professionelle Hilfe in Anspruch.

Sind Selbstverletzungen eigentlich ein Phänomen der Jugend, sprich: Wächst sich das Problem aus?

Selbstverletzungen sind im besonderen Maße an die Zeit der Pubertät gebunden, eine Lebensphase, in der Jugendliche vieles, auch Riskantes ausprobieren und ihre Grenzen testen. Aber nicht immer wächst sich ein problematisches pubertäres Verhalten von allein wieder aus. Wir müssen genau hinschauen, denn wir wissen auch, dass die Pubertät häufig die Phase ist, in der psychische Erkrankungen ihren Anfang haben. Bislang zeigen erste Studien, dass nur ein sehr geringer Anteil der Jugendlichen mit Selbstverletzungen dies auch im Erwachsenenalter noch tut. Allerdings gilt es immer im Einzelfall zu prüfen, ob der Jugendliche im Verlauf nur ein anderes Mittel zur Gefühlsregulation gewählt hat wie Alkohol oder Drogen.

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