Schweres Erbe von StalingradEnde der Schlacht jährt sich zum 75. Mal

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Deutsche Soldaten marschieren nach der Kapitulation 1943 in Stalingrad in die Gefangenschaft.

Deutsche Soldaten marschieren nach der Kapitulation 1943 in Stalingrad in die Gefangenschaft.

Riesige Schneeflocken wirbeln auf die Inschriften der Grabsteine, die eisige Luft macht das Atmen schwer. Die Stille an dem Hügel im einstigen Stalingrad wird nur durch den zügigen Stechschritt der russischen Soldaten unterbrochen, die zur Wachablöse am Ewigen Feuer herbeimarschieren. Das riesige Monument Mutter Heimat übersieht niemand in Wolgograd. Es erinnert an eines der schlimmsten Kapitel im Zweiten Weltkrieg – die Schlacht von Stalingrad. Die Kapitulation der 6. Armee um General Friedrich Paulus und somit das Ende der Schlacht jährt sich zum 75. Mal. Russland feiert den Sieg am 2. Februar.

Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Friedrich Paulus

Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Friedrich Paulus

Die Russin Valentina hält inne, ihr Blick richtet sich in die Höhe. Ehrfürchtig legt sie ihre Hand behutsam auf den Sockel des 85 Meter großen Monuments. „Es zieht mich immer wieder hierher – wie ein Magnet“, sagt die Frau. Sie ist in Wolgograd geboren, ihre Familie durchlebte die Belagerung der Stadt. Auch deswegen ist der Besuch in ihrer Heimatstadt für Valentina jedes Mal sehr emotional.

Wendepunkt des Krieges

Die Wehrmacht hatte die Stadt monatelang eingenommen. Im Winter 1942/43 wurden jedoch mehr als 300 000 Soldaten von der Roten Armee eingekesselt. Der Sieg der sowjetischen Truppen gilt als der Wendepunkt des Krieges. 700 000 gefallene Soldaten und getötete Zivilisten sind Schätzungen zufolge die grausame Bilanz der Schlacht. Die strategisch und auch ideologisch wichtige Industriestadt, die bis 1961 den Namen des Sowjetdiktators Josef Stalin trug, war komplett zerstört und wurde fast vollständig neu errichtet.

Die Ruine des im Zweiten Weltkrieg heftig umkämpften Pawlow-Hauses im heutigen Stadtzentrum von Wolgograd.

Die Ruine des im Zweiten Weltkrieg heftig umkämpften Pawlow-Hauses im heutigen Stadtzentrum von Wolgograd.

Heute flanieren die Menschen durch die Hauptstraße, Kinder posieren lachend am bunten Schriftzug „Wolgograd“, der am Flussufer steht. Er soll auf die Fußball-Weltmeisterschaft hinweisen, die im Sommer auch in der Millionenmetropole stattfindet. Die Erinnerung an die Schlacht ist jedoch allgegenwärtig. Von der Allee der Helden, dem Platz der getöteten Kämpfer und bis hin zur Straße der Roten Armee: Beinahe jeder Ort hält die Erinnerung an die dramatische Geschichte wach.

„Die Stadt wird ewig mit dem Krieg verbunden sein. Das ist unser Schicksal“, sagt der Leiter des Stalingrad-Museums, Alexej Wassin. Aus dem Fenster seines modernen Büros blickt er direkt auf die Backstein-Ruine des sogenannten Pawlow-Hauses im Stadtzentrum. Hier tobte wochenlang ein heftiger Kampf zwischen sowjetischen und deutschen Soldaten – mittendrin bangten die in der Stadt eingeschlossenen Kinder, Mütter und alten Menschen um ihr Leben. „Bald zeigen wir genau hier auch eine Multimedia-Show. Das richtet sich dann besonders an die jungen Leute“, sagte Wassin der Deutschen Presse-Agentur.

Zeitzeugen sterben aus

„Es geht hier nicht nur um Patriotismus und Heldentum“, sagt der Museumsdirektor bestimmt. „Die Großväter und -mütter leben nicht mehr. Alle Zeitzeugen der Schlacht sterben und können uns bald nicht mehr vom Schicksal unserer Stadt erzählen.“ Wassins Museum zählt zu den meist besuchten Ausstellungen Russlands. Mehr als zwei Millionen Menschen seien 2017 in das Museum gekommen.

In dem kreisrunden Bau im Stadtzentrum reihen sich vor allem Raketenwerfer an Sturmgewehre und Uniformen. An den Wänden hängen riesige Bilder, die Stalin und sowjetische Generäle in heroischen Posen zeigen. Genau dokumentiert werden die Kampfhandlungen, kurze Filmsequenzen zeigen den Horror der Tage. Bombenhagel ließ damals die Stadt in Flammen aufgehen. Die Szene wird im Minutentakt mit dramatischen Bilden an die Wand projiziert.

Fast unauffällig wirkt hingegen der Soldatenfriedhof Rossoschka, rund 40 Kilometer von Wolgograd entfernt. Nur eine kleine, wenig befahrene Landstraße führt zu der einsamen Gedenkstätte. Hier sind nicht nur Soldaten der deutschen Wehrmacht, sondern auch Angehörige der Roten Armee begraben. Die Gegner von einst sind nur durch die holprige Straße getrennt. Hunderte Helme auf Grabsteinen reihen sich aneinander, sie erinnern an die toten sowjetischen Soldaten. Auf deutscher Seite stehen meterhohe Granitblöcke, in denen die Namen und Sterbedaten der gefallenen Soldaten eingemeißelt sind. Mehr als 61 000 Gefallene sind hier bestattet, umgekommen bei Kampfhandlungen oder in der Kälte erfroren, sagt Peter Lindau vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Seit rund 25 Jahren sucht die Organisation im Gebiet der ehemaligen Frontlinie nach sterblichen Überresten der Gefallenen – in Zusammenarbeit mit russischen Behörden.

Selbst Touristen zieht es an diesen Ort der Schlacht, die in jedem Geschichtsbuch in Russland und Deutschland genannt wird. „Junge Menschen starben hier, einige gerade 20 Jahre alt“, sagt der 51-jährige Australier John, als er auf die Grabsteine blickt. Er legt einzelne rote Nelken auf die Steinwand am Friedhof, die Blütenblätter frieren schon nach wenigen Minuten in der Kälte ein. „Jetzt ist es nicht die eisige Luft, die mir die Sprache verschlägt.“ (dpa)

Wie die Schlacht um Stalingrad verlief

m Sommer 1942 erreicht die 6. Armee der deutschen Wehrmacht Stalingrad. Es gelingt ihr jedoch nicht, die Stadt vollständig einzunehmen. Nach einer Offensive der Roten Armee im November werden über 200.000 deutsche Soldaten eingeschlossen und notdürftig aus der Luft versorgt. Im Winter 1942/43 ist es in Stalingrad kälter als minus 30 Grad. Der Angriff der Wehrmacht auf die russische Stadt endet in der Kapitulation der deutschen Truppen.

Der Verlauf

Mitte August 1942: Die 6. Armee der Wehrmacht unter General Friedrich Paulus eröffnet die Offensive auf die nach Sowjetdiktator Josef Stalin benannte Stadt – unterstützt von der 4. Panzerarmee.

13. September: Der Angriff auf den Stadtkern von Stalingrad beginnt. Bis Mitte November erobert die Wehrmacht rund 90 Prozent des Stadtgebiets.

19. November: Die Rote Armee beginnt im Nordwesten und im Süden eine zangenförmige Großoffensive.

22. November: Die gesamte 6. Armee sowie Teile der 4. Panzerarmee und verbündeter rumänischer Verbände sind eingeschlossen.

24. November: Auf Befehl des Diktators Adolf Hitler dürfen die deutschen Truppen unter keinen Umständen Richtung Westen ausbrechen.

12. Dezember: Die deutsche „Heeresgruppe Don“ beginnt einen Angriff, um die eingekesselten Verbände zu befreien. Aufgrund des sowjetischen Widerstands wird die Aktion nach neun Tagen abgebrochen.

8. Januar 1943: Die Rote Armee überbringt den eingekesselten Deutschen ein Kapitulationsangebot – es wird abgelehnt.

10. Januar: Die Sowjetunion beginnt ihren Generalangriff. Im Laufe des Monats werden die eingeschlossenen Wehrmachtssoldaten in einen nördlichen und einen südlichen Kessel geteilt.

31. Januar: Die Rote Armee erreicht das Hauptquartier der 6. Armee im Südkessel. Die Truppen kapitulieren, Paulus wird Kriegsgefangener.

1. Februar: Hitler erwartet, dass sich der Nordkessel „bis zum Letzten“ hält.

2. Februar: Auch die ausgezehrten deutschen Einheiten im Nordkessel ergeben sich und lassen sich gefangen nehmen.

Von den etwa 91 000 deutschen Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft kommen, kehren nur 6000 in die Heimat zurück.

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