Umstrittenes VorgehenWann muss der Weisheitszahn raus?

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Röntgenbild einer 60-Jährigen: Eine Zyste am Weisheitszahn (r. u.) hat den Kieferknochen zerstört.

Röntgenbild einer 60-Jährigen: Eine Zyste am Weisheitszahn (r. u.) hat den Kieferknochen zerstört.

Eigentlich war bei Maria Müller (Name geändert) Zahnersatz geplant. Doch auf dem großen Röntgenbild (siehe rechts) zeigte sich ein Zufallsbefund: Im linken Unterkiefer der 60-Jährigen hatte sich an einem Weisheitszahn eine Zyste gebildet und schon so stark ausgedehnt, dass sich ein großer Teil des Knochens aufgelöst hatte. Es folgte eine schwierige Operation. "Bei so wenig Knochen ist die Gefahr eines Kieferbruchs hoch", sagt Wolfgang Diener, Oralchirurg aus Düsseldorf.

Zysten gehören zu den gefürchteten Komplikationen bei belassenen Weisheitszähnen. Denn diese flüssigkeitsgefüllten Hohlräume wachsen oft unbemerkt und schädigen das umliegende Gewebe, also auch den Kieferknochen. Bei Maria Müller konnte Wolfgang Diener die Zyste nicht entfernen, sondern sie nur öffnen. Diese sogenannte Zystostomie nimmt den Druck aus dem Gewebe und beendet das Wachstum. Der Weisheitszahn, der tief im Knochen liegt, wird erst später herausoperiert, wenn der Knochen stabilisiert ist.

Weisheitszähne sind die achten und letzten Zähne im Ober- und Unterkiefer. Sie wachsen nicht nur spät, sondern oft schräg zum Nachbarzahn. Falls sie durchbrechen, sind sie durch ihre Lage am Ende der Zahnreihe nur schwer sauber zu halten. Zudem wachsen sie oft nur teilweise durchs Zahnfleisch, was Infektionen begünstigt. Auch das Risiko von Zahnfehlstellungen oder Wurzelschäden an Nachbarzähnen besteht.

Ob eine Entfernung von Weisheitszähnen nötig ist, hängt laut Bundeszahnärztekammer von den Antworten auf diese Fragen ab: Haben die Zähne zu krankhaften Veränderungen am Kiefer geführt oder sind solche zu erwarten? Ist zu erwarten, dass sich die Zähne regelrecht entwickeln können? Sind besondere operative Risiken bei einer Entfernung zu erwarten? Sind die Weisheitszähne eventuell zum Ersatz verlorener Backenzähne geeignet?

Gegen eine Operation spricht: Wenn eine regelrechte Einstellung der Weisheitszähne in die Zahnreihe zu erwarten ist Wenn Weisheitszähne tief im Knochen liegen, somit ein hohes Komplikations-Risiko besteht oder wenn die Zähne frei sind von krankhaften Veränderungen.

Deshalb raten viele Zahnärzte dazu, Weisheitszähne frühzeitig zu entfernen, meist im Alter von 16 bis 18 Jahren. Vorbeugend, ohne Symptome also. Etwa eine Million Weisheitszähne werden jedes Jahr in Deutschland entfernt. Es ist eine der häufigsten Operationen in der Zahnmedizin. Doch weil auch die Operation selbst Risiken birgt, ist es eine Frage der Abwägung. Fundierte wissenschaftliche Belege für oder gegen diese Vorgehensweise sind bislang rar. "Es ist eine schwierige Einzelfall-Entscheidung", sagt Zahnärztin Christine Heyner von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland. Aus ihrer Sicht sollten klare Anhaltspunkte vorliegen, die für eine Entfernung sprechen (siehe Kasten). Das meint auch Professor Gerhard Wahl, Direktor der Poliklinik für Chirurgische Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Uni Bonn: "Ohne klare Indikationsstellung sollte keine Weisheitszahnentfernung vorgenommen werden." In Großbritannien wurde vor mehr als zehn Jahren die vorbeugende Weisheitszahnentfernung abgeschafft. Der Grund: Es gab nicht genügend Belege für den Nutzen der Maßnahme. "Trotzdem liegt mittlerweile die Zahl der entfernten Weisheitszähne in England sogar noch über dem Niveau vor der Entscheidung", sagt Thomas Dietrich, Leiter der Oralchirurgie an der Universität von Birmingham. "Es sanken also weder die Kosten noch die Zahl der Komplikationen." Eine mögliche OP-Komplikation ist die Verletzung der Unterkiefer-Nerven, was zu dauerhaften Gefühlseinschränkungen in Lippe oder Zunge führen kann. Das Problem: "Wir wissen nicht, wie hoch die Komplikationsrate wirklich ist, wenn man die Weisheitszähne drin lässt", sagt Dietrich. Für Martin Kunkel, Koordinator der Leitlinie zur operativen Entfernung von Weisheitszähnen und Direktor der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Ruhr-Uni Bochum, ist daher die Forschungsaufgabe klar: "Es wäre wichtig, möglichst früh die Zähne identifizieren zu können, die langfristig Probleme machen werden. Bislang lässt sich das nicht vorhersagen." Derzeit, so Kunkel, verdichteten sich die Hinweise, dass doch einiges für eine frühzeitige Entfernung spricht. So seien Komplikationen bei vorsorglicher Entfernung seltener.

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