Die mit den Gipfeln sprichtDiese Frau hat als Erste alle Achttausender bestiegen

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Gerlinde Kaltenbrunner in ihrem Tiroler Übungsterrain. Sie entspricht so gar nicht dem üblichen Klischee des Bergsteigers

  • Gerlinde Kaltenbrunner ist als erste Frau ohne Flaschensauerstoff auf alle Achttausender der Erde gestiegen.
  • Bei einer Winterwanderung durch ihr Tiroler Übungsterrain verrät die ausgebildete Krankenschwester, wie sie mit den Gipfeln spricht und warum ihr Rekorde nichts bedeuten

Eine muskelbepackte Gestalt, ein wettergegerbtes Gesicht, ein fusseliger Bart, ein kariertes Holzfällerhemd. So stellt man sich einen Extrembergsteiger vor – irgendwas zwischen Waldschrat, Yeti und Gesamtschullehrer der 1970er-Jahre. Eine ganze Generation Abenteurer prägte dieses Bild im deutschsprachigen Raum, mit Büchern, Vorträgen, Filmen. Ständig ringt er in dünner Luft und eisiger Kälte mit dem Tod und hat so natürlich gar keine Zeit für Nebensächlichkeiten wie einen Friseurbesuch. Die Lust an der Beinahe-Katastrophe ist ein guter Verkaufs-Trigger.

Gerlinde Kaltenbrunner fällt auf den ersten Blick überhaupt nicht auf zwischen den Journalisten aus München, Wien und Bonn, die sich trotz Plusgraden in Thermounterwäsche, Skihosen und Winterjacken kuscheln. In dünner Sportleggins und einem leichten Fleece steht die 49-Jährige seelenruhig im Foyer des Hotels Alpennest im Seefelder Ortsteil Leutasch. Sie freue sich auf den Wandertag im Schnee auf der Hochebene zwischen Wetterstein und Karwendel, sagt sie. 16 Kilometer und 400 Höhenmeter liegen vor der Gruppe. Eine von vier Etappen auf dem ersten winterlichen Weitwanderweg durch Tirol – auf Wunsch auch mit Gepäcktransport. Für Gerlinde Kaltenbrunner muss das doch ein geradezu lächerlicher Spaziergang sein. „Gar nicht“, sagt sie. Wer hoch hinauf wolle, müsse schließlich unten anfangen.

Eine Legende der Alpinisten

Unter Alpinisten ist Gerlinde Kaltenbrunner eine Legende. Als erste Frau stand sie ohne Sauerstoffflasche im Rucksack auf allen 14 Gipfeln der Achttausender dieser Welt.  Und kehrte stets ohne Erfrierungen mit allen zehn Fingern und zehn Zehen zurück. Über Rekorde will Kaltenbrunner nicht sprechen. „Die hatten für mich nie eine Bedeutung“, sagt sie schon auf den ersten Metern, als das Grüppchen von der Hauptstraße auf einen verschneiten Feldweg abbiegt. Kein Heldentum, keine Angeberei. „Ich habe mich nie im Wettbewerb mit anderen gesehen.“ Für den Weg zum Ziel brauche man vor allem Geduld. Für die 14 Gipfel benötigte sie 23 Versuche.

Ihre außergewöhnliche Geschichte beginnt Anfang der 1980er-Jahre in Kirchdorf an der Krems in Oberösterreich mit dem Gemeindepfarrer Erich Tischler. Die fünf Geschwister auf dem abgelegenen Hof wundern sich immer wieder, warum Gerlinde auch sonntags früh aus dem Bett steigt und in Knickerbockern und Bergschuhen zu seinen Gottesdiensten stiefelt. Wenn der Wetterbericht Gewitter ankündigt, „hat’s den Segen halt schon mal eine Viertelstunde früher gegeben“, erinnert sie sich.

nschließend ging  Pfarrer Tischler mit den Kindern in die Berge zum Klettern oder auf Ski-Touren.

Mit 16 Jahren landet Gerlinde Kaltenbrunner in einem Diavortrag über den K2, den mit 8611 Metern zweithöchsten Berg der Welt. Ein freistehendes, fast perfekt geformtes Dreieck aus Fels und Eis. Das Nonplusultra für Bergsteiger – weit schwieriger als der Everest. Die Bilder und Erzählungen lassen sie nicht mehr los. Diesen Gipfel will sie mit eigenen Augen sehen, auch wenn der Weg dorthin zwei Wochen lang über den schmutzigen Gondogoro-Gletscher durch menschenleeres Gebiet in Nordpakistan führt.

Der erste Achttausender mit 24 Jahren

Acht Jahre später ist es soweit. Mit 24 Jahren steht Gerlinde Kaltenbrunner 1994 auf dem Vorgipfel des benachbarten Broad Peak in 8027 Metern Höhe, ihrem ersten Achttausender. „Meine Eltern haben das nie verstanden, was ein Achttausender bedeutet“, sagt sie rückblickend. „Mein Vater hat sich über viele Jahre große Sorgen gemacht. Er wollte immer, dass ich heirate und Kinder kriege und gut versorgt bin“, sagt sie. Ein selbst gedrehtes Video aus dem Jahr 2005 bringt der Familie endlich Einsichten aus dünner Luft. Doch erst als Gerlinde im Jahr darauf nur 100 Meter unterhalb des Lhotse-Gipfels in Nepal umkehrt, weil sie nicht mehr kann, macht sich in der Familie Entspannung breit. „Das wichtigste an einer Bergtour ist, dass man gesund wieder runterkommt“, sagt Kaltenbrunner, die eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und jahrelang in Hospitälern gearbeitet hat.

K2 Kaltenbrunner

Die größte Herausforderung: Der K2 ist der zweithöchste Berg der Erde – aber deutlich schwieriger zu erklettern als der Mount Everest Everest.

Wie das geht, kann man heute in Seminaren von ihr lernen – auch für den beruflichen Alltag. Zentral sei natürlich Ausdauer und Training, wie Kaltenbrunner es im Winter und Frühjahr so oft in Tirol absolviert hat – in möglichst vielen Disziplinen. Dazu komme eine gesunde Einschätzung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Das schaffe Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit. „Wenn es dann losgeht, bin ich ganz bei mir“, sagt sie auf dem Weg zum tief verschneiten Lottensee, in dem im Sommer Tausende Frösche quaken.

Eintauchen in den Moment

Der Schnee mache die Schritte leise und lenke die Augen nicht ab. „Man muss in den Moment eintauchen. Wichtig ist nicht der Gipfel. Wichtig ist der nächste Schritt“. Das klingt einfacher als es ist, wenn nicht wie jetzt auf dem Seefelder Olympia-Weg auf halber Strecke die Wirtin der Wildmooser Alm mit Kaasspatzen und Kaiserschmarrn wartet. Auf ihren Expeditionen muss Kaltenbrunner auf solchen Luxus und teils auf die Hilfe anderer verzichten. Das fordert Konzentration und Selbstdisziplin. Wenn im Schneetreiben Kälte in die Glieder kriecht, schickt sie gedanklich „Licht in die Zehen“. „Ich visualisiere dann eine heiße Sauna“, verrät sie. Um der Höhenkrankheit vorzubeugen, muss man viel trinken. Das zwingt in großen Höhen oft zu stundenlangem Schneeschmelzen auf dem winzigen Gaskocher.

„Da muss man sich oft sehr überwinden, sich nicht gleich erschöpft ins Zelt zu legen“, gibt sie zu. Dafür überflute sie regelmäßig eine Welle des Glücks, wenn das Zelt aufgestellt und die Suppe heiß sei. „Wenn man sich richtig verhält, gibt es gar keine Höhenkrankheit“, glaubt Kaltenbrunner, die nie Sauerstoff aus Flaschen oder medikamentöse Hilfsmittel im Gepäck hat. Manche unerfahrene Touristen brauchen Sauerstoff schon, wenn sie mit einer Seilbahn auf 3000 Meter gondeln. „Mit einer Sauerstoffflasche auf einem Achttausender ist es wie in 6100 Metern Höhe. Das kann man gleich lassen“, findet Kaltenbrunner. Jeder müsse auf seinen Körper hören und immer wieder den Partner checken. Wenn eine Pause nicht reicht, gibt es nur noch eine Richtung – nach unten. „Ich vertraue da allein meiner Intuition.“

Die mit den Gipfeln spricht

Und den Bergen. Irgendwann habe sie angefangen, mit den Bergen zu sprechen. „Ich frage sie um Erlaubnis, ob wir zu ihnen kommen dürfen“. Die meisten Gipfel seien freundlich gesinnt, aber einzelne wie die Annapurna in Nepal oder der K2 hätten sie immer wieder abgewiesen. Die Teamkollegen hielten diese Gipfelgespräche lange für einen Spleen, eine Ausgeburt der dünnen Luft, der Strapazen und der Langeweile, die sich bei wochenlangem Warten im Basislager breitmachen kann. Doch wiederholt habe sie mit ihren Prognosen richtig gelegen, erklärt Kaltenbrunner. Inzwischen fragen ihre Partner regelmäßig besorgt bis hoffnungsvoll: „Was sagt der Berg?“

Im Mai 2007 muss sie irgendwas falsch verstanden haben. Bei einem Biwak an der Flanke des Dhaulagiri löst sich ein Schneebrett und verschüttet Kaltenbrunner und ihre Seilschaft. Sie selbst und ein Kamerad können sich befreien, aber zwei Spanier sind tot. „Da wurde ich das erste Mal mit meiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Andererseits ging alles wahnsinnig schnell: Todesangst, Panik, Funkionierenmüssen.“ Kaltenbrunner bricht die Tour ab.

Aber die Ereignisse verfolgen sie. Drei Wochen später ist sie wieder unterwegs, diesmal wieder in Pakistan. Nur in den Bergen, glaubt sie, lässt sich das Erlebte verarbeiten. Die erste Nacht im Zelt wird zur Tortur. „Ich bin bestimmt 30 Mal aus dem Schlafsack gekrochen und habe draußen nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist“. Ein echtes Zwangsverhalten. Am Morgen ist Kaltenbrunner völlig erschöpft. „Da war für mich klar: Entweder breche ich völlig ab oder ich entscheide mich, wieder dem Leben zu vertrauen“.

Lernen, auf sich zu hören

Sie tut Letzteres. Zu groß ist inzwischen der Wunsch, auf allen höchsten Gipfeln des Planeten zu stehen, einem nach dem anderen. So lernt Kaltenbrunner ihre Lektion. „Panik kostet nur Kraft und Sauerstoff“, sagt sie heute. Dagegen müsse man tief in den Bauch hinein atmen. Im Gewitter nicht weglaufen, sondern die nächste Mulde suchen. Bei Übelkeit viel trinken. Bei Selbstzweifeln zu einem Buch greifen oder Musik hören. Und einen Abbruch nie als Scheitern sehen, nie als finanziellen Verlust oder Zeitverschwendung. „Ich habe das immer als wertvolle Erfahrung gewertet“, sagt Kaltenbrunner. Viele Männer dagegen sähen sich in ähnlicher Lage als Verlierer.

Fast alle Herausforderungen bringt sie auf diese Weise hinter sich. Nur am K2 bricht sie sich fast die Zähne aus. Im wahren Sinn. Auf einem Anmarsch plagen sie plötzlich unstillbare Zahnschmerzen. In Skardu, der Provinzhauptstadt von Baltistan im Norden Pakistans, ist nur eine Spritze mit blutiger Nadel aufzutreiben. So bohrt der örtliche Dentist schließlich ohne Betäubung den Nerv auf, weil für eine Reise in die Hauptstadt Islamabad keine Zeit bleibt. Ein Taxifahrer sitzt als zufälliger Zeuge an der Seite der vor Angst zitternden Bergsteigerin. Schließlich ist es Landessitte, dass der Ehemann der Behandlung beiwohnt. Die Tortur zahlt sich letztlich nicht aus. Auch dieser Besteigungsversuch scheitert. Bei der vierten Expedition stürzt schließlich im August 2010 Kaltenbrunners Kletterpartner Frederic Ericsson in die Tiefe.

Die Bezwingung des letzten Riesen

Die Frau gibt trotzdem nicht auf. Im Jahr darauf probiert sie es ein fünftes Mal – diesmal von der anderen, der chinesischen Seite aus. Hier ist es noch einsamer als in Pakistan. Die Behörden haben jede Luftrettung mit dem Helikopter von vornherein ausgeschlossen. Und im Sommer ist ein großer Fluss auf der Route über Wochen unpassierbar. „Aber es kann ja immer überall etwas passieren“, beruhigt sich Kaltenbrunner. Nach fast einem Monat Anmarsch und Abwarten steht sie am 23. August 2011 um 18.18 Uhr auf dem Gipfel. Das Ziel ist erreicht, der letzte der höchsten Eisriesen bezwungen. „Der Empfang in München war echt ergreifend. Viele Leute waren gekommen. Und mein Vater war total erleichtert, dass das jetzt endlich ein Ende hat.“

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Danach geschieht das Erstaunliche. Obwohl Kaltenbrunner das Bergsteigen längst zum Beruf gemacht hat, ist das Kapitel für sie tatsächlich abgeschlossen. Zwar geht sie zwischen ihren Vorträgen und öffentlichen Auftritten noch immer regelmäßig in die Berge, aber ein schöner Sechstausender tut’s seither auch. „Ich hatte nie mehr den Wunsch nach ganz oben“, verrät sie, während die Wandergruppe sich dem Tagesziel Mösern nähert. Albrecht Dürer hat dort 1498 den grandiosen Blick aufs tiefer liegende Inntal gemalt. Auf einer Anhöhe läutet jeden Nachmittag um 17 Uhr die größte Glocke des Alpenraumes ihre Friedensbotschaft in die Ferne. Gerlinde Kaltenbrunner ist begeistert. Selbst hier gebe es für sie noch viele neue Berge zu erklimmen. Wenn man antizyklisch hochsteige, also zum Beispiel nicht morgens, sondern am späten Nachmittag, sei es fast so einsam wie auf einem Achttausender. Zum Frühjahr hin wird Gerlinde Kaltenbrunner ein paar neue Berge ansprechen.

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