Schulpsychologin über Corona„Je länger der Lockdown dauert, desto stiller wird es“

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Schulunterricht Symbolbild

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  • Das Lernen auf Distanz bringt viele Probleme mit sich.
  • Die Schulpsychologin Eva Schute über die besonderen Herausforderungen für Schüler, Eltern und Lehrer – und die Sorge, dass diejenigen, die Hilfe bräuchten, nicht mehr erreicht werden.

Frau Schute, wie sehr belastet die Pandemie Schüler und Eltern? Eva Schute Die Belastungen sind für Schüler und Eltern auf unterschiedliche Weise hoch. Zugleich findet eine Art Funktionieren statt. Schüler und Eltern versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Das kennen wir auch aus anderen Krisen, die jedoch typischerweise vorübergehen. Diese Krise ist anders. Sie ist ein Dauerzustand, deren Ende nicht absehbar ist. Und, je länger sie dauert, desto größer werden die Lerndefizite vor allem bei den Schülern, die mehr Unterstützung benötigen. Auf diese Weise vergrößern sich die bereits bestehenden Bildungsunterschiede.

Was sind die größten Probleme?

Eine große Herausforderung für viele Schüler in den weiterführenden Schulen ist die Selbstorganisation. Je nachdem, wie das Distanzlernen umgesetzt wird, kriegen sie eine große Menge an Aufgaben auf einmal und müssen sich selbst strukturieren, um alles zu bewältigen. Das klappt insbesondere bei den Jüngeren schlechter, auch weil sich die Kinder leichter ablenken lassen. Wenn die Eltern da nicht unterstützen, fällt das eine oder andere hinten runter.

Kann der Digitalisierungsschub nicht bei der Selbstorganisation helfen?

Ja, darin liegt eine Chance, weil dadurch zwangsläufig das selbstgesteuerte Lernen stärker in den Fokus rückt, was von der Lernforschung schon länger gefordert wird. Aber die Unterstützung der Eltern braucht es trotzdem, gerade auch bei Grundschülern. Die brauchen Hilfe bei der Bearbeitung der Aufgaben. Insgesamt stellt die Situation alle Eltern vor nicht wirklich zu lösende Probleme. Was sie leisten, verdient große Anerkennung. Die Doppel- bzw. Dreifachbelastung, denn der Haushalt muss ja auch gemacht werden, ist eine große Herausforderung. Oft entsteht das Gefühl, keiner Aufgabe gerecht werden zu können. Der so vorprogrammierte Stress führt oft zu Konflikten, insbesondere wenn Kinder sich weigern, ihre Aufgaben zu erledigen.

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Wie stark sollen Eltern eingreifen?

Grundsätzlich sollten Kinder schon im Laufe der Grundschule lernen, dass sie dafür verantwortlich sind, ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn sich zeigt, dass ein Kind das noch nicht verstanden hat, ist es wichtig, Kontakt zu den Lehrern aufzunehmen. So wird ein wichtiger Teil der Verantwortung für das Lernen des Kindes an die Lehrkraft zurückgegeben, denn schließlich ist sie es, die die Hausaufgaben erteilt. Durch das Distanzlernen wird es aber auch für die Lehrkräfte schwerer, diese Kontrolle wahrzunehmen. Viele Eltern unterstützen ihre Kinder mit großem Einsatz, indem sie selbst Schulbücher wälzen oder das Internet bemühen. Wenn Eltern hier an ihre Grenzen stoßen, sollten sie sich aber selbst keinen Druck machen, weil der sich dann auch bei den Kindern niederschlägt. Sinnvoller ist es, auch in diesem Fall das Gespräch mit der Lehrkraft zu suchen. Besonders betroffen sind Schüler mit besonderem Förderbedarf beim Lernen. Gerade bei diesen Kindern ist es wichtig, Felder aufzuzeigen, in denen sie erfolgreich sein können – vielleicht auch draußen beim Fußballspielen.

Fehlt nicht auch ein geregelter Tagesablauf?

Viele Automatismen sind nicht mehr da. Die Strukturierung, die Kinder durch die Schule normalerweise haben, ist weg. Aufstehen, Unterricht, Pausen, sozialer Austa usch, all das fällt weg. Es muss im Grunde eine neue Struktur aufgebaut werden. Eine Lehrerin berichtete mir von älteren Schüleren, 15 oder 16 Jahre alt, die das Bett kaum noch verlassen und ständig online sind, aus Sorge, etwas zu verpassen. Dadurch gelingt es kaum noch, auch einmal Abstand von der Schule zu gewinnen. Es fehlt aber auch die sinnvolle Bewegung und nicht zuletzt leidet natürlich auch die Schlafqualität, wenn alles im Bett stattfindet.

Wie gehen Jugendliche insgesamt mit der Situation um?

Besonders schwierig ist es für Jugendliche insofern, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, in der sie sich eigentlich von zu Hause abgrenzen wollen und jetzt die ganze Zeit zu Hause sitzen müssen. Das passt nicht zu ihrem Lebensgefühl und zu ihrer Entwicklung.Der Freiheitsdrang äußert sich dann möglicherweise in einer ausufernden Mediennutzung. Diese kann einerseits dadurch gefördert werden, dass spät abends noch irgendwelche Klausurergebnisse kommen, die natürlich von großem Interesse sind. Hier scheint es tatsächlich hilfreich, wenn jede Schule eine Vereinbarung darüber trifft, wann die Kommunikation ruht, wie dies vom Ministerium empfohlen wird.

Andererseits gibt es aber auch die Tendenz, sich von einem Erklärvideo bei Youtube zum nächsten durchzuklicken, und schließlich bei den Videos der angesagten Youtuber oder Musikstars zu landen. Und dann sind da natürlich noch die verschiedenen Austauschkanäle mit den Mitschülern, die auch nachts nicht stillstehen. Jugendliche, die Schwierigkeiten mit den schulischen Anforderungen haben, haben jetzt zusätzlich das Problem, dass ihre Eltern dies hautnah mitkriegen. Das kann eine zusätzliche Belastung bedeuten. Sie schaffen etwas nicht, wollen es aber auch nicht zeigen. Normalerweise können sie sich in der Schule mit anderen Schülern austauschen, wenn es mit dem Lernen nicht klappt, sich dadurch auch gegenseitig helfen oder entlasten. Doch das fehlt jetzt.

Vermissen Kinder die Schule?

Schule ist als Ort wichtig, das wird vielen in der aktuellen Situation besonders deutlich. Durch den Lockdown wissen vermutlich viele Kinder die Schule noch einmal anders zu schätzen, möglicherweise selbst diejenigen, bei denen sonst eher der Zwangscharakter von Schule im Vordergrund stand. Kinder sind mit der Situation überfordert, Eltern auch.

Was ist mit den Lehrern?

Das ist ganz unterschiedlich. Eine Lehrerin beschrieb, dass alles normal läuft und dass sie das Gleiche macht wie sonst auch. Ihre Schule hat schon vor einigen Jahren begonnen, sich mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen und nutzt schon länger die Teams-Software. Das ist eine gute Basis, die ihr in der aktuellen Krise hilft. Sie versteht sich selbst aber auch eher als Lernbegleiterin und unterstützt schon immer die Selbststeuerung ihrer Schüler, was diesen jetzt natürlich hilft. Auf der anderen Seite gibt es Lehrkräfte, die sich verzweifelt fragen, wann sie das alles schaffen sollen, weil sie als Fachlehrer besonders viele Klassen unterrichten. Da entsteht sicherlich manchmal das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu befinden.

Nehmen psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zu?

Wenn eine entsprechende Veranlagung da ist, können durch zu hohen Stress psychische Störungen zum Ausdruck kommen. Im Rahmen unserer Krisenberatung für Schule erreichen uns Anfragen von Lehrkräften oder anderen Fachkräften an Schulen, die mit psychiatrisch auffälligem Verhalten von Schülern konfrontiert sind. Damit es möglichst gar nicht erst soweit kommt, bringen sich Beratungslehrer und Sozialarbeiter immer wieder in Erinnerung, so dass Eltern und Schüler wissen, dass sie Hilfe bekommen können. Aber wir merken auch: Je länger der Lockdown dauert, desto stiller wird es. Da kommt Vieles nicht bei uns an. Die Menschen richten sich in der neuen Situation ein, im Guten wie im Schlechten.

Verändert sich das Mobbingproblem durch die Pandemie?

Diese Frage beschäftigt mich tatsächlich auch. Nach einer Studie aus dem vergangenen Jahr hat das Cybermobbing noch einmal zugenommen. Ein grundsätzliches Problem bei Mobbingopfern ist, dass sie sich ohnehin oft nicht mitteilen, aus Angst davor, dass alles noch schlimmer wird. In der normalen Schulzeit besteht noch eher die Chance, dass aufmerksame Lehrkräfte registrieren, wenn sich jemand verändert und beispielsweise zurückzieht. Im Distanzunterricht lässt sich die Not Einzelner aber kaum noch erkennen. Die Lehrkräfte sehen ihre Schüler nur auf dem Bildschirm, wenn überhaupt. Manche Schüler schalten die Videofunktion auch aus, weil i hr Netz zu Hause viel zu schlecht ist. Die Distanz erschwert, um Hilfe zu bitten, aber auch zu helfen. 

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