Faktencheck zu CoronaWie wichtig die Reproduktions-Zahl wirklich ist

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Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 auf einer Aufnahme mit einem Elektronenmikroskop

  • Seit einiger Zeit ist die Lage in der Corona-Krise in Deutschland stabil – Abzulesen ist das auch an dem R0-Wert, einer wissenschaftlichen Größe – Ergibt das Sinn?

Angela Merkel ist mit Zahlen vertraut. Als Bundeskanzlerin, aber noch viel mehr als promovierte Physikerin. Am Mittwochabend war es die Zahl 1, die Merkel besonders beschäftigte. Es war auf der Pressekonferenz nach der Tagung mit den Ministerpräsidenten der Länder. Es ging um die sanften Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen in der Corona-Krise. Die Reproduktionszahl des Virus liege derzeit bei 1, sagte Merkel. Das ist gut. Denn es bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel nur noch eine weitere Person ansteckt. R0 = 1. Die Verbreitung des Virus ist damit stabil.

Was sagt der R0-Wert über die Situation in Deutschland aus?

Wir bewegen uns bei der Reproduktionszahl nahe einer Schlucht. Wir balancieren quasi an der Felskante. Klettert der R0-Wert nur minimal, sagen wir auf 1,1, wird es schon wieder kritisch für unser Gesundheitssystem. In solch einem Fall würde Deutschland im Oktober an die Kapazitätsgrenzen kommen, sagte Merkel. „Wenn wir 1,2 haben, also jeder steckt 20 Prozent mehr an, also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems“, so die Kanzlerin weiter.

Wie funktioniert die Reproduktionszahl?

Vereinfacht ausgedrückt ist R0 = a ∙ b ∙ c, wobei a hier für die Anzahl der Kontakte eines Infizierten pro einer bestimmten Zeiteinheit steht, b für die Wahrscheinlichkeit der Infektion bei Kontakt und c für die mittlere Dauer der Infektiösität. Die Aufstellung von a, b und c ist dabei ein sehr komplexer mathem atischer Vorgang.

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Die Belastung des Gesundheitssystems ergibt sich nun mit Blick auf die Zahl der stationär aufgenommenen und intensivmedizinisch betreuten Patienten. Wissenschaftler um den Physiker Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, haben diese Daten mit der Reproduktionszahl in einer Modellrechnung in Verbindung gebracht. Bei einer Reproduktionszahl von 1, wie sie derzeit in den meisten Bundesländern erreicht ist, wären deutschlandweit auf ein ganzes Jahr dauerhaft Intensivbetten in der Größenordnung von 10 000 mit Covid-19-Patienten belegt.

Deutschland besitzt nach einer Aufstockung der Krankenhausgesellschaft zufolge nun rund 40 000 Intensivbetten, wobei man hierbei nicht die herkömmlichen Intensivfälle außer Acht lassen darf. Das Gesundheitssystem würde in diesem Szenario nicht über lastet, sagen die Forscher.

Würde die Reproduktionszahl wieder auf ein Niveau von vor einigen Wochen steigen, würden innerhalb weniger Monate Hunderttausende Menschen einen Intensivplatz benötigen. Das Gesundheitssystem würde kollabieren. Wie in Italien. Denn mit steigendem R0-Wert entwickelt sich die Kurve der Infektionsfallzahlen wieder zunehmend exponentiell.

Das Ziel muss also stets R0 kleiner gleich 1 sein. Unter 1 nähme die Verbreitung des Virus ab. Bei R0 = 0,5 würden vier Infizierte zwei weitere Personen anstecken, die dann wiederum nur noch eine Person anstecken.

Warum lockern wir dann die Maßnahmen?

Lagerkoller und die Wirtschaft sind die Antworten. Die Corona-Beschränkungen schlagen aufs Gemüt. Noch halten sich die allermeisten Menschen an die Richtlinien, doch wer sich auf einen Spaziergang in den Wald begibt, sieht auch, dass sich die Ausnahmen mehren. Ei nige haben mittlerweile schlichtweg die Schnauze voll. Der Mensch ist auf andere Menschen angewiesen. Er braucht ihre Nähe, nicht nur ein Bild in einer verwackelten Video-Übertragung. Die Betriebe fahren schon seit einigen Wochen mit angezogener Handbremse. Auch das belastet. Ökonomen warnen bereits vor einer noch nie dagewesenen Rezession.

„Epidemiologisch gesehen ist jede Lockerung falsch“, mahnt Michael Meyer-Hermann. Ein Zusammenleben mit dem Virus, bis es einen Impfstoff gibt, würde sehr lange dauern. „Ich hätte es bevorzugt, wenn wir versucht hätten, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine wirkliche totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehren können“, so Meyer-Hermann.

Wäre ein kompletter Lockdown besser gewesen?

Wenn man die Idee weiterspinnt, ist man nicht mehr sehr weit weg vom Lockdown, den China durchge führt hat. Millionen Menschen wurden quasi zu Hause eingesperrt, der Kontakt zu anderen auf ein Minimum beschränkt. In der westlichen Welt kaum vorstellbar, doch mit der einzige Weg, wenn wir schnell aus der Krise heraus wollen. Höchstwahrscheinlich wird es nie so kommen. Denn die strikte Quarantäne würde um ein Vielfaches mehr aufs Gemüt der Menschen drücken als die bisher ergriffenen Maßnahmen. Bund und Länder werden also wohl stets eine Taktik fahren, bei der das Virus uns begleiten wird bis wir einen Impfstoff haben. Die Aufgabe wird dann aber sein, uns alle für die sich andeutende belastend lange Koexistenz zu wappnen.

Pandemie-Dauer

Die Dauer der Pandemie würde sich bei dem aktuellen R0-Wert verlängern. Bei einem Wert von 1 wäre nach der gängigen Modellrechnung (siehe Haupttext) nach einem Jahr nur etwa ein Prozent der Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infiziert worden. Von einer Herdenimmunität wären wir also noch sehr weit entfernt. Dafür müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung eine Infektion durchgemacht haben und danach auch noch eine längere Zeit immun sein. „Eine Immunisierung der gesamten Bevölkerung ist unter Einhaltung der Kapazitäten des Gesundheitssystems daher nicht zu erreichen“, sagt Physiker Michael Meyer-Hermann.

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