Gasrechnung höher als der LohnWie sehr die Türkei unter der massiven Inflation leidet

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Türkei

Die türkische Währung Lira hat in diesem Jahr rund 40 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. 

Istanbul – Wer in der Türkei einkaufen geht, muss sich beeilen. Ein Gemüsehändler in der Istanbuler Innenstadt kommt mit den Preisschildern kaum nach, so schnell steigen die Einkaufspreise für Gemüse, Obst und Eier, die er an die Kunden weiterreichen muss. Seine Stromrechnung im Laden, vor nicht allzu langer Zeit noch bei 150 Lira, ist in kurzer Zeit über mehrere Schritte auf fast tausend Lira gestiegen: „Denken Sie mal, tausend Lira!“

Tausend Lira sind fast ein Drittel des türkischen Mindestlohns, mit dem die Hälfte der Beschäftigten in der Türkei auskommen muss. Auch zu Hause steigen die Ausgaben für den Grundbedarf ständig, erzählt der Gemüsehändler. Das gesamte Gehalt eines Bekannten reiche gerade noch für seine Gasrechnung.

Inflation in der Türkei liegt offiziell bei 20 Prozent

Seit Jahresbeginn hat die Lira mehr als ein Drittel ihres Wertes gegenüber Euro und Dollar verloren, allein seit Wochenbeginn stürzte der Kurs um zehn Prozent ab. Die Inflation liegt offiziell bei 20 Prozent, doch viele Normalbürger und unabhängige Experten beobachten, dass ihr Geld in Wirklichkeit noch viel schneller dahinschmilzt.

Türken in der Türkei

Menschen in Istanbul 

Deshalb sparen die Leute, wo sie können. Ein Schuster in Istanbul sagt, seine Kunden würden ihre alten Schuhe flicken lassen, statt neue zu kaufen. In einer Autowerkstatt wartet der Meister mit seinem Gesellen vergeblich auf Kundschaft. Nur selten komme noch jemand, um sein Auto warten oder reparieren zu lassen, sagt er. Ersatzteile und Motoröl – Importware – seien kaum zu bezahlen.

„Auf Pump leben, solange es noch geht“

Selbst den regelmäßigen Friseurbesuch sparen sich viele Türken. Die Istanbuler Bäcker denken über eine kräftige Erhöhung der Brotpreise nach, Gas- und Strompreise steigen ständig. Die Mieten sind in einem Jahres um mehr als 20 Prozent gestiegen, Preise für Nahrungsmittel um fast 30 Prozent. Zugleich sinkt der Wert des Einkommens, das die meisten Türken zur Verfügung haben: Anfang des Jahres entsprach der Mindestlohn mehr als 300 Euro, heute sind es noch 200 Euro. Wie kommen die Leute da über die Runden? Der Gemüsehändler zuckt mit den Schultern. „Kreditkarten überziehen und auf Pump leben, solange es noch geht.“

Neuer Finanzminister

Der wegen der taumelnden Landeswährung und damit verbundener Wirtschaftsprobleme unter Druck stehende türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan tauscht den Finanzminister aus. Lütfi Elvan verlässt das Amt nach nur etwas mehr als zwölf Monaten und wird durch Nureddin Nebati ersetzt, wie aus einer offiziellen Mitteilung vom Mittwochabend hervorgeht. Die Talfahrt der türkischen Lira hatte sich zuletzt beschleunigt, für zusätzlichen Druck hatte am Dienstagabend ein Interview Erdogans beim Staatssender TRT gesorgt, in dem er bis zu den für 2023 geplanten Wahlen niedrigere Zinsen versprochen hatte. Die Währung der Türkei befindet sich schon seit Längerem auf Talfahrt. (dpa)

Früher hätten sich Leute aus der unteren Mittelschicht einen gebrauchten Laptop gekauft, weil sie sich keinen neuen leisten könnten, erinnert sich ein Istanbuler Computerhändler. Heute seien selbst gebrauchte Geräte unerschwinglich. Das hat auch Folgen für ihn selbst: Für den Ertrag, den er früher mit einer Stunde Arbeit erzielt habe, müsse er heute fünf Stunden arbeiten.

Experten sehen die Schuld bei Präsident Recep Tayyip Erdogan

Die Opposition und viele Experten sehen die Schuld bei Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Staatschef ist überzeugt, dass die Leitzinsen sinken müssen, um die Inflation zu bekämpfen – die meisten Fachleute sagen, dass eine hohe Inflation mit Zinserhöhungen bekämpft werden muss. Auf Druck von Erdogan hat die türkische Zentralbank mehrmals die Zinsen gesenkt, was den Absturz der Lira beschleunigte. Semih Tümen, ein von Erdogan gefeuerter ehemaliger Vizechef der Zentralbank, nennt den Kurs ein „irrationales Experiment ohne Aussicht auf Erfolg“. Erdogan gibt trotzdem weiter Vollgas. Die nächste Zinssenkung wird schon im Dezember erwartet.

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Der Präsident will mit möglichst niedrigen Zinsen die Konjunktur ankurbeln, um rechtzeitig vor den nächsten Wahlen in anderthalb Jahren die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Warnungen von Experten, dass er die Menschen in die Armut treibt, schlägt er in den Wind. Hinter den Problemen will er vielmehr ein internationales Komplott gegen die Türkei erkannt haben. Deshalb rief er jetzt einen „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“ aus, den er „mit Gottes Hilfe und Unterstützung der Nation“ gewinnen will. Auch wenn sich solche Töne absurd anhören: Viele Türken glauben dem Präsidenten und halten trotz aller Beschwerden zu ihm. Hinzu kommt, dass viele Wähler keine Alternative sehen. Nach einer Umfrage des angesehenen Instituts MetroPoll trauen zwei von drei Wählern der Opposition nicht zu, die Probleme des Landes zu lösen.

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