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Held der Meinungsfreiheit oder Hure des Trumpismus?Das Evangelium nach Charlie Kirk – eine Spurensuche

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Am Ort des Attentats wird Charlie Kirk verehrt wie ein Märtyrer.

Am Ort des Attentats wird Charlie Kirk verehrt wie ein Märtyrer.

Am 10. September wurde Charlie Kirk erschossen. In Deutschland kaum bekannt, spaltet der christliche Aktivist auch nach seinem Tod die USA. War er ein mutiger Verfechter konservativer Werte oder ein gefährlicher Radikaler? 

Als eine Patrone am 10. September Charlie Kirks Leben auslöscht, seine Frau zur Witwe und seine Kinder zu Halbwaisen macht, stellt sich in deutschen Redaktionen schnell eine Frage: Wie soll man über ein Attentat auf eine Person berichten, die kaum jemand hierzulande kennt? Die Antwort liegt in den Attributen: Charlie Kirk wurde wahlweise als „rechtskonservativ“ oder „rechts“ eingestuft.

Kirk selbst sagte über sich, er sei zuerst Christ, dann Amerikaner, dann ein Konstitutionalist – also ein Verfassungsanhänger –, und erst zuletzt ein Konservativer.

War er nun ein Held der Meinungsfreiheit oder eine Hure des Trumpismus? – So lauten zugespitzt die beiden Pole der Bewertung von Charlie Kirk, zwischen denen zwar viel Distanz, aber wenig fruchtbarer Debattengrund liegt. Meinungsmäßiges „Fly-Over-Country“ sozusagen.

Seit zehn Tagen fluten Videos von Kirk das Netz, sie werden gewissermaßen als Beweisführung für den noch zu bewertenden Tugendgrad des Ermordeten gepostet. Ein vollständiges Bild, ein abschließendes Urteil gar, kann sich angesichts von vielen Stunden Videomaterial, das Charlie Kirk in mehr als zehn Jahren seines politischen Wirkens produziert hat, nicht ergeben.

Mit KI erstellte Bilder und Videos zeigen schon jetzt Charlie Kirk mit Heiligenschein – oder wie er von einer Jesus-Figur in die Arme geschlossen wird; sie sind das digitale Pendant zu den „Santo subito“-Rufen der Römer beim Tode von Papst Johannes Paul II.: „Sprecht ihn sofort heilig!“ Im Vatikan gibt es allerdings eine eigene Behörde für Heiligsprechungen, manchmal dauern Verfahren dort eben Jahrhunderte, und selbst im Fall von Johannes Paul II. zumindest einige Jahre. Gut so.

Der Sound des Evangeliums, das Charlie Kirk predigte, lässt sich allerdings auch jetzt schon beschreiben. Wie sah die „radikale“ Religiösität von Charlie Kirk aus, von der die deutsche ZDF-Moderatorin Dunja Hayali sprach? Unsere Spurensuche beginnt bei der Weihnachtsgeschichte.

Kirk über Maria und den Feminismus

Die amerikanische Gründungsgeschichte wurde durch Anhänger protestantischer Freikirchen geprägt. Heute aber ist der Katholizismus die größte christliche Gemeinschaft in den USA. Etwa 60 Millionen Menschen bekennen sich zu ihr, nicht zuletzt viele Latinos. Der Protestant Kirk, der mit einer Katholikin verheiratet war, näherte sich nach Angaben einiger Freunde der katholischen Kirche an.

Der Mutter Jesu, Maria, würden Protestanten jedenfalls zu wenig Ehre erweisen, kritisierte Kirk in einem Video. Eine größere Marien-Verehrung sei auch eine Antwort auf den „toxischen Feminismus“ in den USA. Mehr junge Frauen sollten „fromm und ehrfürchtig“ sowie weniger vorlaut und jähzornig sein. Maria sei da ein „phänomenales“ Vorbild, so Kirk.

Kirk und die lauen Christen

Kirk verfolgte nach eigenen Angaben das Ziel, daran mitzuwirken, dass seine Generation die „konservativste“ und „christlichste“ Generation werde. Dabei kämpfte er gegen eine Interpretation des Christentums, die er als zu lasch empfand: „Was haben Salz und Licht gemeinsam?“, fragt er einmal. Die Antwort: Sie veränderten ihre Umgebung. Kirk weiter zu seinen Zuhörern: „Sie passen sich nicht an, sie bejahen nichts.“ Und: „Verändert ihr eure Umgebung, euren Arbeitsplatz, eure Familie? Baut ihr Menschen auf, lehnt ihr das Böse ab?“

Kirk und Homosexualität

In der Politik gehe es um „Addition und Multiplikation“, sagte Kirk in einem Video. Deshalb heiße er schwule und lesbische Menschen in der „konservativen Bewegung“ willkommen. Es sei falsch, sich nur darüber zu definieren, was man im Schlafzimmer tue: „Das bedeutet mir nicht so viel“, so Kirk, auch wenn er als Christ einen homosexuellen „Lifestyle“ ablehne. Auf einem anderen Video, das derzeit von seinen Anhängern viel geteilt wird, streitet sich Kirk mit einem Zuschauer, der „offen Schwule“ aus der „konservativen Bewegung“ ausschließen wollte. Kirks Antwort: „Leben wir in einer Theokratie?“ Jesus habe mit allen – Zöllner und Prostituierte eingeschlossen – gesprochen.

Kirk und die Gleichheit aller Menschen

Verbreitete Charlie Kirk die Philosophie der Überlegenheit der weißen „Rasse“ über andere menschliche „Rassen“? Immer wieder ist das zu lesen, Kirk wird als „White Supremacist“ bezeichnet. Ein Zitat, das als Beleg angeführt wird, lautet: „Wenn ich einen schwarzen Piloten sehe, hoffe ich, er ist qualifiziert“. Die Äußerung stand im Kontext einer Debatte über positive Diskriminierung.

Kirk sagte: Quotierungsprogramme durch Fluggesellschaften, etwa für einen bestimmten Prozentteil an dunkelhäutigen Piloten, untergrüben das Vertrauen in den Kapitän eines Flugzeugs, weil sich die Frage stelle, ob dieser durch Leistung oder durch die Quote ins Cockpit gekommen sei.

In einem anderen Video geht es um die Frage, welche Bedeutung die Hautfarbe im politischen Diskurs haben solle. „Du bist schwarz, aber darauf kommt es nicht an“, sagte Kirk zu seinem Gegenüber. Worum es stattdessen gehe: „Bist du eine gute Person? Was tust du? Wie behandelst du andere Menschen? ... Wir werden weiterhin Unterschiede sehen können, aber ich möchte, dass wir sie in den Hintergrund treten lassen und dass wir einander anschauen als Mitmenschen“.

Kirk und Abtreibung

„Übernimm Verantwortung für deine Orgasmen“: Das war Kirks Pöbel-Appell an eine junge Frau, die mit ihm über die Legalität von Abtreibungen debattierte. Kirk bestand darauf, die Ablehnung von Abtreibungen zwar als Christ zu vertreten, aber auch aus nicht-religiösen Gründen rechtfertigen zu können. „Es ist niemals richtig, die Massen-Eliminierung von Menschen damit zu rechtfertigen, dass sie „nicht gewollt“ sind. So kamen wir nach Auschwitz.“ Die Frage, ob er Abtreibungen mit dem Holocaust vergleiche, bejahte Kirk: „Absolut“.

Das Leben nach dem Tod

Als Kirks mutmaßlicher Mörder gefasst wird, spricht FBI-Chef Kash Patel zur versammelten Presse. Seine letzten Worte gelten Charlie Kirk: „See you in Valhalla“ – wir sehen uns in Walhalla – ausgerechnet dem heidnischen Ruheplatz gefallener Krieger.

Wenig später äußert sich Charlie Kirks Witwe Erika erstmals öffentlich nach dem Mord an ihrem Mann. Die Kamera läuft, Erika Kirk kommt von der Seite ins Bild. Sie verharrt im Gebet und flüstert „Jesus, fill this room“, Jesus, fülle diesen Raum. Dann hebt sie den Blick und spricht.

An ihrem Redepult hängt ein Bild von Charlie Kirk. Darauf steht: „Mögen die gnädigen Arme unseres uns liebenden Erlösers Jesus Christus Charlie empfangen.“ Wenige Monate vor seinem Tod fragt ein Journalist Kirk, wie er nach seinem Tod erinnert werden möchte. Kirks Antwort: „Für den Mut meines Glaubens. Das wichtigste ist mein Glauben.“