Widerstand in DoelHappy End für das Lützerath Belgiens in Sicht

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Eine Geisterstadt, die weg sollte: Noch 23 Bewohner halten eisern die Stellung in Doel.

Eine Geisterstadt, die weg sollte: Noch 23 Bewohner halten eisern die Stellung in Doel.

Doel sollte eigentlich für die Erweiterung des Antwerpener Hafens weichen. Doch das scheint nun anders zu kommen. Der Widerstand hat sich wohl ausgezahlt.

Doel gibt es noch. Das ist vielleicht das größte Wunder in der Geschichte des 400 Jahre alten belgischen Dorfs. Sie musste immer wieder neu geschrieben werden in den vergangenen Jahrzehnten dank einiger Bewohner, die einfach nicht aufgeben wollten. Die auch noch blieben und stritten und kämpften, als die Bagger anrückten und ihre Nachbarhäuser abrissen; als Anwälte die Menschen mit Geld weglockten, mit Enteignung drohten und den Druck auf die Gemeinde erhöhten; als die Schulen und Restaurants dichtmachten und der Bus aufhörte, die Haltestelle anzufahren; als Plünderer wüteten und sich das Unkraut langsam durch die Häuserwände fraß. Die Aktivisten stemmten sich gegen den qualvollen und langsamen Tod ihres Örtchens. Mit Erfolg. Doel steht noch, und mittlerweile nur ein bisschen im Weg.

Leere Hülle  verblassten Lebens

Heute leben ehemalige wie auch neue Widerspenstige hier, obwohl die kleine Siedlung lediglich eine leere Hülle verblassten Lebens bildet. Doel. 23 Bewohner. Eine Geisterstadt, die weg sollte, weil die flämische Wirtschaft wachsen wollte. Die Geschichte erinnert an das deutsche Lützerath, nur darf sie auf ein Happy End hoffen.

Liese Stuer gehört zu den Rebellen, auch wenn sie erst vor sechs Jahren ins belgische Gallien gezogen ist. Damals präsentierte sich der Ort noch als „fast verbotener Schandfleck“, wie sie sagt, aber ihr gefiel der Gedanke, in einem „Projekt“ zu leben, für das es sich zu kämpfen lohnte. Zudem waren die Mietpreise unschlagbar günstig.

Die 38-Jährige wohnt mit ihrem Sohn und Partner in einem kleinen Backsteinhaus, bei dem der Garten ins Feld übergeht. „Ich mag die Ruhe und die Gemeinde“, sagt Stuer. Ruhe? Sie lächelt und setzt sich mit einer Tasse Kaffee an ihren hölzernen Küchentisch. Die Grafikkünstlerin meint die einzigartige Naturlandschaft von Doel und der Polder. Aber wenn sie aus dem Fenster blickt, offenbart sich ihr in ganzer Breite der Grund für das Drama um Doel an der Schelde in Ostflandern.

Eine Stadt zwischen Atomkraftwerk und Riesen-Hafen

Links liegt ein Atomkraftwerk, aus dessen zwei Kühltürmen an diesem Morgen dichte Dampfwolken in den Himmel steigen. Rechts von der Siedlung zieht sich der Antwerpener Hafen in den Horizont, wo im Minutentakt riesige Containerschiffe einlaufen und abgefertigt werden. Der zweitgrößte Hafen Europas ist eine eigene Welt aus Terminals, Fabriken, Ölraffinerien und Docks. Aber selbst diese wurde den Betreibern inmitten des Aufschwungs im 20. Jahrhundert zu klein.

Der Hafen sollte erweitert werden, das umliegende Gebiet Platz machen. Was ab den 1970er Jahren folgte, war ein Kampf der lokalen Bevölkerung, damals zählte sie noch 1300 Menschen, gegen Goliath. Das Problem: Irgendwann kamen nicht nur Künstler und Aktivisten, die das Erbe erhalten wollten und die Gebäude, die die einstige Lebendigkeit des Dorfs erahnen lassen, wie als Statement anstrichen. Auch der Vandalismus nahm zu. Obdachlose zogen in die Häuser und Partywütige veranstalteten hier ihre Raves. Stuer redet vom „Wilden Westen“, wenn sie Bilder aus den 1990er und 2000er Jahren zeigt.

Die Straßen wirken wie eine Kulisse aus einem Film

Diese Zeiten haben tiefe Spuren hinterlassen. So haben sich Künstler, aber auch weniger Kunstbegabte an den Backsteinmauern der leerstehenden Häuser mit Malereien und farbenfrohen Graffitis verewigt. Eingänge sind mit Brettern verrammelt. Slogans erinnern an den zermürbenden Streit. Es herrscht eine gespenstische Stille, die leeren Straßen wirken wie eine Filmkulisse – ein Paradies für Kameracrews und Instagram-Fans, die für Schnappschüsse vorbeikommen. Nur ab und an steht ein Auto vor der Tür. Achtung, hier wohnt jemand. Andere warnen potentielle Eindringlinge da klarer: „Dit huis is bewoond“, steht auf einem Schild geschrieben, das im Fenster einer Villa hängt, deren Pracht seit Jahren dahinbröckelt. Das Gebäude unweit der kleinen Kirche stellt derzeit noch eine Seltenheit dar. Bald aber könnten weitaus mehr bewohnt sein.

Vor wenigen Jahren gab es erste Signale, dass auch lokale Politiker den Ort retten wollten. So wurden die Fenster der übrig gebliebenen Häuser verbarrikadiert, um sie vor dem weiteren Verfall zu bewahren, und die Polizei begann, regelmäßig zu patrouillieren. Etliche Gespräche und jahrelange Verhandlungen zwischen den 13 beteiligten Parteien brachten schlussendlich im vergangenen Frühjahr den Durchbruch. Doel soll bestehen bleiben und der Hafen trotzdem ausgebaut werden.

Der flämische Finanzminister Matthias Diependaele, der auch für Wohnungsbau zuständig ist, hat den Kompromiss mit auf den Weg gebracht und bezeichnete die Vereinbarung als „historisch“. Man habe es geschafft, „die wirtschaftliche Notwendigkeit des Wachstums des Antwerpener Hafens mit der Lebensqualität von Doel in Einklang zu bringen“. So einigten sich die Betroffenen unter anderem darauf, dass Doel eine Zukunftsperspektive erhält „mit den Schwerpunkten Wohnen, Kulturerbe und Freizeit“. Die Bewohner bekamen eine neue Verbindung auf dem Wasserweg zugesagt, mit einer Fähre oder einem Wasserbus. Die alte Windmühle wird schon jetzt renoviert, der Friedhof folgt als nächstes. „Das sind alles positive Zeichen“, sagt Liese Stuer. Zeichen, dass man für Doel eine Zukunft schaffen, das Dorf fortentwickeln will.

Gleichwohl stünden sie nun vor einer anderen Schwierigkeit: „Wie können wir die künstlerische Atmosphäre bewahren und das Dorf trotzdem normaler machen?“ Man wolle „unbedingt“ den besonderen Charakter erhalten, sagt Stuer. Dazu gehöre, dass Doel ein „kleines Dorf“ mit maximal 100 Einwohnern bleibe. So ist es auch mit den mächtigen Nachbarn des Antwerpener Hafens ausgemacht.

Kompromiss auf beiden Seiten

Im Gegenzug besteht für den „bereits überfüllten“ Hafen, wie die Betreiber stets betonten, eine Aussicht auf eine Erweiterung und damit auf vier Millionen zusätzliche Container. Man einigte sich außerdem darauf, dass das neue Dock sieben Tage in der Woche und 24 Stunden am Tag in Betrieb sein kann. „Heilige Kühe wurden für alle geschlachtet“, sagte Diependaele bei der Bekanntgabe des Kompromisses und verwies auf die Schwierigkeiten, die den Weg dahin begleiteten. „Es ist wie auf einer Wippe mit 13 Leuten und man muss aufpassen, dass niemandem übel wird.“ Noch nie in den letzten 50 Jahren war der Optimismus so groß wie heute. „Doel“ ist das niederländische Wort für Ziel. Die Bewohner scheinen ihres erreicht zu haben.

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