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Interview mit Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann„Dieser Haftbefehl ist ein Appell, weitere Kriegsverbrechen zu unterbinden“

Lesezeit 4 Minuten
Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Konferenz.

Russlands Präsident Wladimir Putin

Was droht dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, sollte er sich tatsächlich in Den Haag verantworten müssen? Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann berät die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen.

Wie bewerten Sie es, dass der Internationale Strafgerichtshof (englische Abkürzung: ICC) Haftbefehl gegen Putin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen hat?

Hoffmann: Die Entscheidung des Strafgerichtshofs hat ohne Zweifel historische Bedeutung. Erstmals in seiner Geschichte ist nunmehr ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Präsidenten einer der fünf UN-Vetomächte ergangen. Dieser Haftbefehl ist nicht nur ein Appell an die Mitgliedstaaten des ICC, sondern an die gesamte Welt, weitere Kriegsverbrechen effektiv zu unterbinden und die Täter der strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen.

Müsste Putin jetzt damit rechnen, im Falle einer Reise nach Brüssel verhaftet zu werden?

Alle Mitgliedstaaten des Strafgerichtshofes sind verpflichtet, den bestehenden Haftbefehl umzusetzen. Also ja, Putin müsste mit seiner Festnahme und anschließenden Auslieferung nach Den Haag rechnen.

Putin wird für die Deportation von Kindern nach Russland verantwortlich gemacht. Wie schätzen Sie die Beweislage bei diesem Tatvorwurf ein?

Zunächst einmal muss ich betonen, dass unsere Gruppe keine eigenen Ermittlungen führt und wir daher auch nicht in allen Fällen die Beweislage selbst beurteilen können. Im vorliegenden Fall hat der Chefankläger beim ICC entsprechende Beweise gesammelt und dem Gericht mit dem Antrag auf Haftbefehl vorgelegt. Drei Richter der Vorverfahrenskammer haben diese Beweise eingehend geprüft und sind dann zur Überzeugung gekommen, dass ein dringender Tatverdacht gegeben ist.

Die konkreten Beweise hat der ICC dabei unter Verschluss gehalten, um die Opfer zu schützen und die weiteren Ermittlungen nicht zu gefährden. Was wir tatsächlich sehen, sind zahlreiche Berichte von Zeugen und Opfern, aber auch zahlreiche öffentliche Stellungnahmen von russischer Seite, die die Deportation bestätigen, wenngleich natürlich die russische Seite diese Fakten anders bewertet.

Wird es womöglich weitere Anklagepunkte geben?

Ich gehe fest davon aus, dass über die nächsten Monate und gegebenenfalls Jahre die Ermittlungen andauern und Beweise auch für weitere Kriegsverbrechen gesammelt werden. Im Übrigen war es auch am Jugoslawien-Tribunal durchaus üblich, dass die jeweiligen Anklagen bis zum eigentlichen Prozessbeginn erweitert wurden.

Von wie vielen Kriegsverbrechen von Seiten russischer Soldaten geht die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft bisher aus?

Die Generalstaatsanwaltschaft hat bislang mehr als 70000 Verfahren offiziell registriert. Das beinhaltet Kriegsverbrechen, Vorwürfe des Völkermordes und des Angriffskrieges, zum Teil aber auch Verfahren wegen Kollaboration und Landesverrat.

Was sind Ihrer Einschätzung nach die schlimmsten Kriegsverbrechen bislang?

Jedes einzelne Kriegsverbrechen ist schlimm und eines zu viel. Auch wenn man solche Verbrechen nicht miteinander vergleichen kann, so stechen doch vor allem die Verbrechen gegen die Kinder (Deportation und planmäßige, langjährige Indoktrination), die systematische sexuelle Gewalt und Folter gegen Zivilisten sowie seit Oktober 2022 die massive und landesweite Zerstörung der zivilen Infrastruktur mit massiven Folgen für die gesamte Zivilbevölkerung heraus. Diese Verbrechen stehen zudem in keinem Zusammenhang mit einer rein militärischen Auseinandersetzung.

In Deutschland hat die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine Kontroverse ausgelöst, indem sie behauptete, die UN-Menschenrechtskommissarin hätte „immer wieder darauf hingewiesen, auch in diesem Krieg: Kriegsverbrechen werden von beiden Seiten begangen“ worden seien. Wie beurteilen Sie das?

Es kommt dabei immer auf den Kontext und die Perspektive an. Auch wenn es in der Ukraine sehr vereinzelt Vorwürfe gegen ukrainische Soldaten gibt, ist doch zu betonen, dass diese Tatvorwürfe in keiner Relation zu den massiven und planmäßigen Kriegsverbrechen der russischen Föderation stehen. Das genannte Zitat kann nur als Relativierung, ja schon fast als Entschuldigung für die russischen Kriegsverbrechen verstanden werden. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel und negiert vollkommen die Geltung des Internationalen Humanitären Völkerrechts.

Gibt es Hinweise auf ukrainische Kriegsverbrechen? Sind das Einzelfälle oder ein Massenphänomen? Und geht die ukrainische Justiz hier beispielhaft voran?

Es gibt wie gesagt in sehr wenigen Fällen Hinweise auf Kriegsverbrechen durch ukrainische Soldaten. Dem Rat internationaler Experten folgend, werden auch diese Verdachtsmomente professionell durch die ukrainischen Behörden aufgenommen und ermittelt.

Wie ernst sind Berichte zu nehmen, wonach russische Einheiten in besetzten Gebieten systematisch sexualisierte Gewalt anwenden?

Leider gibt es bereits jetzt zahlreiche Aussagen und Berichte zu einem systematischen Einsatz sexueller Gewalt durch die russischen Truppen. Diese werden auch durch abgehörte Telefonate von russischen Soldaten mit Familienangehörigen in Russland bestätigt. Das Ausmaß dieser Verbrechen dürfte dabei wesentlich größer sein als bisher dokumentiert, da sich viele Opfer sexueller Gewalt oft gar nicht oder erst viel später an Nichtregierungsorganisationen oder offizielle Stellen wenden. 

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