Analyse zum Ukraine-KriegPutin plant Annexionen aus der Defensive

Lesezeit 9 Minuten
Russischer Panzer neben Putinplakat

Ein russischer Panzer fährt an einem Bild des russischen Premierministers Wladimir Putin vorbei. 

Köln – Die USA haben nachgelegt. „Außergewöhnliche Konsequenzen“ würden fällig, wenn Russland nach den Scheinreferenden in Teil der Ukraine tatsächlich die betroffenen Gebiete annektieren wolle, erklärte Ned Price, der Sprecher des US-Außenministeriums, am Mittwochabend (US-Zeit). Zudem kündigten die USA ein neues, gewaltiges Waffenpaket an (siehe unten), das in der „Washington Post“ ausdrücklich als Antwort auf die russische Eskalation bewertet wurde.

Wie reagiert die Westen auf die Annexionspläne?

Offenbar wollen die USA den Preis hochtreiben, den Russland für seinen geplanten Landraub zahlen wird. Zunächst, nach der TV-Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 21. September, hatten sie zwar mit dramatischen Warnungen auf dessen Nuklear-Drohungen reagiert. Zu Folgen des Annexionsplans selbst beschränkte sich US-Präsident Joe Biden damals auf die Ansage: „Wir werden mit unseren Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten, um Russland schnell zusätzliche und schwere wirtschaftliche Kosten aufzuerlegen.“

Auch die übrigen G7-Staaten und die EU ließen es zunächst bei der Ankündigung einer neuen Sanktionsrunde bewenden. Und das angesichts einer geplanten Okkupation, von der ein Gebiet in der Größe Portugals betroffen ist. Bemerkenswert ist eine Äußerung von US-Außenminister Anthony Blinken bei CNN: Die Ukraine dürfe von den USA gelieferte Waffen benutzen, um okkupierte Gebiete zurückzuerobern. Eigentlich eine Banalität – und doch nicht: Die USA legen Wert darauf, dass die Ukraine kein russisches Gebiet angreift. Blinken stellt somit klar: Die Oblaste (Bezirke) Donezk, Luhansk, Saporischjscha und Cherson sind und bleiben ukrainisch. Die geplante Annexion ist für den Westen bedeutungslos – völkerrechtlich, politisch und militärisch. Das könnte die zunächst zurückhaltende westliche Antwort erklären.

Am Donnerstag gab es noch Hinweise, Putin könne die Annexion um ein paar Tage verschieben. Nun aber plant er, so sein Sprecher Dmitri Peskow, am heutigen Freitag einen „voluminösen Auftritt“ zum Anschluss der ukrainischen Gebiete.

Wie verläuft Kiews Nordost-Offensive?

Die Ukraine setzt derweil ihre Gegenoffensiven in den von Russland beanspruchten Gebieten unvermindert fort. Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht immer wieder von den Rückeroberungen.

Im Nordosten ist das Tempo zwar nicht mehr so hoch wie bei der blitzkriegartigen Offensive im Bezirk Charkiw, als russische Truppen zum Teil in Panik die Flucht ergriffen und massenhaft Panzer, andere Fahrzeuge und Munition zurückließen. Trotzdem arbeiten sich die ukrainischen Truppen im Grenzgebiet der Bezirke Charkiw, Donezk und Luhansk Dorf um Dorf voran. Das bestätigt auch der britische Militärgeheimdienst, stellt allerdings einen verstärkten russischen Widerstand fest.

Nach der Charkiw-Offensive hat Russland vergeblich versucht, eine Linie entlang des Siwerskyj Donez und seines Nebenflusses Oskil zu halten, der nahe des Dorfes Oskil zu einem 85 Kilometer langen See aufgestaut ist – eine massive Barriere. Trotzdem ist es der Ukraine gelungen, beide Flüsse an mehreren Stellen zu überschreiten. Die Ukraine dringt sowohl von Kupjansk als auch vom Oskilsker Stausee aus nach Osten vor, wie vom US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) gesammelte Geodaten zeigen. Hinzu kommt unter anderem ein Übergang über den Siwerskyj Donez bei Bilohoriwka.

Dadurch entsteht für Russland eine bedrohliche Lage: Die Ukraine nimmt die Kleinstadt Lyman mit den dort massierten Truppen in die Zange. Russische Militärblogger meldeten in der Nacht zum Freitag eine Einkesselung. Die Stadt mit ihren vor dem Krieg 20 000 Einwohnern ist ein Straßen- und Bahnknoten, sozusagen die nordwestliche Tür zum Donbass. Russland hatte Lyman Ende Mai eingenommen und damit die Eroberung der Doppelstadt Sjewjerodonezk/Lyssytschansk vorbereitet. Nun könnte der Türflügel zurückschlagen.

Nach Lyman könnte die Ukraine weiter in Richtung Sjewjerodonezk vorstoßen. Das Flüsschen Scherebets ist das einzige nennenswerte natürliche Hindernis auf dem Weg dorthin, und nach Darstellung des nationalistischen russischen Bloggers Rybar stehen die Ukrainer im Ort Torske bereits auf dem Ostufer dieses Wasserlaufs.

Kann Russland die ukrainische Armee hier noch stoppen? Bisher liegt der Schwerpunkt der russischen Aktivität woanders: bei Donezk und Bachmut. Getreu der vom Kreml ausgegeben Devise, den ganzen Bezirk Donezk zu erobern – so schlecht die Chancen dafür nach den ukrainischen Erfolgen im Nordosten auch stehen.

Wie sieht es im Süden der Ukraine aus?

Aus dem Umland der Bezirkshauptstadt Cherson tief im Süden des Kriegsgebiets sind dagegen seit Wochen keine nennenswerten Änderungen im Frontverlauf bekanntgeworden. Dennoch gibt es hier intensive Kämpfe. Russland setzt zunehmend im Iran gekaufte Drohnen ein – auch gegen die Zivilbevölkerung in umliegenden Städten bis hinab nach Odessa. Behauptungen, die Ukraine habe ein russisches Drohnen-Kontrollzentrum an der Dnipro-Mündung getroffen und dabei auch iranische Instruktoren getötet, ließen sich bisher nicht erhärten. Die russischen Truppen sind bei Cherson weitgehend isoliert, drei Brücken über den Dnipro ins restliche besetzte Gebiet nicht passierbar. Die Russen behelfen sich mit Kähnen und Pontons, die von Motorbooten geschleppt werden. Die Ukraine greift solche improvisierten Fähren immer wieder an und unterbindet alle Versuche, Brücken wiederherzustellen oder Pontonbrücken zu errichten. Zudem attackiert sie russische Depots und Stellungen.

Nach Angaben der „New York Times“, die sich auf US-Regierungsbeamte bezieht, haben russische Kommandeure dringend einen Rückzug aus Cherson empfohlen, auch um Kräfte für den Nordosten freisetzen. Putin habe das abgelehnt und den Kommandeuren erklärt, er bestimme die Strategie. Ein Beispiel für das Missverhältnis zwischen Putins Zielen und seinen militärischen Möglichkeiten, sagte der US-Analyst Michael Kofmann der „New York Times“ dazu: „An entscheidenden Punkten hat Putin immer wieder auf Aufschub gesetzt und sich geweigert, die Realität wahrzunehmen, bis aus schlechten Optionen noch schlechtere wurden.“

Was ist im neuen US-Waffenpaket?

1,1 Milliarden Dollar wollen die USA für neue Waffenlieferungen an die Ukraine aufwenden. Wichtigster Teil des Pakets sind 18 neue Himars-Raketenwerfer samt Munition. Erstmals seit Juli werden wieder solche Geräte geliefert. Damit wird die Zahl der bisher 16 Himars-Werfer in ukrainischem Besitz mehr als verdoppelt. Hinzu kommen acht größere, aber technisch kompatible Exemplare der Baureihe M270 (Bundeswehr-Version: Mars II), die Großbritannien und Deutschland geliefert hatten. Trotz gegenteiliger russischer Behauptungen ist bisher nicht bekannt geworden, dass die Ukraine auch nur eines dieser Waffensysteme verloren hätte. Sie dürfte damit künftig über 42 derartige Raketenwerfer verfügen.

Die USA wollen zudem zwölf Titan-Systeme zur Drohnenabwehr liefern, ferner gegen Beschuss gesicherte Hummvee-Truppentransporter, Schleppfahrzeuge für Geschütze und Militär-Lkw. Die US-Militärhilfe für die Ukraine summiert sich damit auf inzwischen 16,9 Milliarden Dollar. 

Wie läuft die russische Teilmobilisierung?

Gleichzeitig mit Annexionsplänen und Atomdrohung hatte Putin die Mobilisierung von Reservisten angekündigt. Verteidigungsminister Sergej Schoigu sprach von 300 000 Reservisten, Oppositionsmedien gehen von einer weit höheren Zahl aus. Die innenpolitischen Folgen sind bekannt: Proteste und Massenflucht ins Ausland. Mittlerweile versucht Russland die Ausreise nach Kasachstan zu unterbinden, in Richtung Georgien gibt es Transitbeschränkungen.

Selbst Größen des Staatsfernsehens wie Margarita Simonjan, die Chefredakteurin des Propagandasenders RT, und Talkmaster Wladimir Solowjow gingen auf Distanz zu den Praktiken in den Einberufungszentren. Betroffen seien „unsere Leute“ und kein „liberales Gesindel“, meinte Simonjan. Gemeinsam mit dem Kreml, so die Botschaft, kümmere man sich um um von lokalen Behörden vorschriftswidrig eingezogene Männer – die Mobilisierung an sich steht natürlich nicht in Frage. Viral ging das Video einer Sanitätssoldatin, die frisch eingezogenen Kameraden riet, Damenbinden gegen feuchte Stiefel mitzunehmen, ferner Schlafsäcke aus dem Sportladen und blutstillendes Material aus Auto-Verbandskästen. Was Blogger Rybar dazu trieb, die Soldatin zu loben: Die russischen Nachschub-Probleme seien ja bekannt, da könnten ihre Ratschläge „Gesundheit und Leben retten“.

Das könnte Sie auch interessieren:

Durch die „Teilmobilisierung“ können auch russische Zeitsoldaten ihren Vertrag nicht mehr beenden, sondern müssen bei der Truppe bleiben. Was die frisch eingezogenen Soldaten betrifft, gingen westliche Experten zunächst davon aus, dass es wegen der erforderlichen Ausbildung Monate dauere, bis sie an der Front seien. Inzwischen aber wurden nach ISW-Angaben schon die ersten Reservisten im Kampfgebiet gesichtet – zum Teil nach eintägigen Crashkursen ins Feuer geschickt.

Sie seien „Kanonenfutter“, schreibt der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman. Die russische Militärführung wolle „Zeit kaufen“. Er zitiert seinen Kollegen Jack Watling mit der Diagnose, der Kreml wolle den Krieg so lange verlängern, bis Wirtschaftskrieg, Drohungen, Destabilisierungs- und Einflusskampagnen die Partner der Ukraine zum Einknicken bringen. Nun müsse der Westen eine schnelle Entscheidung suchen, verlangte der österreichische Militärwissenschaftler Markus Reisner nach der Putin-Ansprache. Zu der von ihm angemahnten Lieferung von Leopard-Panzern haben sich die Europäer bisher nicht bequemt. Das neue US-Rüstungspaket mag aber davon zeugen, dass man auch in Washington den Zeitdruck erkennt.

Und grundsätzlich gäbe es die Option, Wehrpflichtige nach ihrer Ausbildung als Reservisten zu behandeln und an die Front zu schicken. Das ISW berichtet unter Berufung auf den ukrainischen Geheimdienst über einen Protest von Eltern von Kadetten der St. Petersburger Marineakademie, die für ihre Söhne eben dieses Schicksal fürchten – bemerkenswert, denn die Akademie ist eine Eliteeinrichtung.

Welche Folgen hat Putins Atomdrohung?

Bleibt die große Frage: Will Putin seine Beute, das der Ukraine geraubte Land, durch die Drohung mit Nuklearwaffen sichern, wo seine konventionelle Kriegsführung an Grenzen stößt? Nach Freedmans Analyse stellte Putin keine solche Verbindung her. Das tat allerdings Ex-Präsident Dmitri Medwedew. US-Regierungsbeamte ließen das Magazin „Politico“ wissen, man habe nun die geheimdienstliche Beobachtung des russischen Umgangs mit Atomsprengköpfen verstärkt. Präsident Biden hatte schon vor der Putin-Rede gewarnt, Russland könne sich durch einen Atomwaffeneinsatz zum Außenseiter machen: „Tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, tun Sie es nicht."

Auch der Einsatz vermeintlich taktischer Atomwaffen hätte strategische Folgen, meint Freedman. Er hat verschiedene russische Optionen durchgespielt – von einer demonstrativen Nuklearexplosion etwa über der unbewohnten Schlangeninsel über Angriffe auf Infrastruktur bis zum Einsatz von Kernwaffen auf dem Gefechtsfeld. Er erkennt keine Option, die für Russland besonders sinnvoll wäre. Aber liegen nicht dem ganzen Ukraine-Krieg irrationale Entscheidungen zugrunde?

Die USA nehmen die russische Drohung ernst genug, um öffentlich zu reagieren. US-Außenminister Blinken forderte die Russen auf, ihr Atom-Gerede einzustellen. Zuvor hatte Sicherheitsberater Jake Sullivan gesagt: „Wenn Russland diese Linie überschreitet, wird es katastrophale Folgen für Russland geben.“ Über vertrauliche Kanäle auch auf höchster Ebene habe man Russland schon seit Monaten über die ernsten Konsequenzen eines möglichen Atombombeneinsatzes informiert, ließen US-Regierungsbeamte wissen.

Wie könnten solche Konsequenzen aussehen? Der pensionierte US-General Ben Hodges, früher Nato-Oberbefehlshaber in Europa, denkt an eine mögliche Intervention auf ukrainischem Boden oder eine Vernichtung der ohnehin schon dezimierten russischen Schwarzmeerflotte. In der „Welt“ hielt US-Politikberater Matthew Kroenig auch einen Angriff auf die russische Militärbasis für möglich, von der ein eventueller Atomschlag ausgegangen sei.Die USA würden demnach nicht nuklear antworten – aber konventionell, und das mit großer Wucht.

Das könnte Sie auch interessieren:

Während die russische Militärdoktrin, wie Freedman herausstellt, von der Möglichkeit begrenzter Nuklearschläge ausgeht, wollen die USA so eine Entwicklung unbedingt verhindern. Der Einsatz von Atomwaffen muss tabu bleiben. Diese Botschaft richtet sich nicht nur an Russland, sondern auch an China. Bleibt immerhin eine positive Nachricht: Es gibt noch offene Gesprächskanäle zwischen Washington und Moskau.

Rundschau abonnieren