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Lehrkräfte als Missbrauchstäter„Er hat es dargestellt, als sei alles meine Schuld“

Lesezeit 7 Minuten
Ein Mädchen sitzt neben ihrem Schulranzen auf dem Boden und hält die Hände vor das Gesicht (Symbolfoto).

Ein Mädchen sitzt neben ihrem Schulranzen auf dem Boden und hält die Hände vor das Gesicht (Symbolfoto).

Ein Lehrer missbraucht eine Schülerin sexuell, der Fall wird mit großer Verzögerung geahndet, er wird versetzt, die Akten sind inzwischen vernichtet. Wie kann das passieren? Was sagt die Bezirksregierung Köln dazu?

Wenn Marie P. (alle Namen von der Redaktion geändert) heute ein Auto sieht, das genauso aussieht wie das ihres ehemaligen Englischlehrers, packt sie die Angst. Auch wenn das Trauma der sexuellen Übergriffe aus ihrer Schulzeit schon beinahe zwanzig Jahre her ist, kommen die Erinnerungen wieder hoch: an Herrn G. und das, was er Marie angetan hat. An die emotionale Manipulation, die Übergriffe, den Druck des Lehrers, nichts zu verraten.

Sportvereine, Jugendgruppen, Schulen – diese Orte sollten Kindern und Jugendlichen sichere Räume bieten. Aber manchmal geraten junge Menschen gerade dort ins Visier von Täterinnen und Tätern. Etwa in der Kirche werden immer neue Missbrauchsfälle bekannt, auch im Sport flammt die Debatte um sexualisierte Gewalt erneut auf.

231 gemeldete Übergriffe durch Lehrer seit 2012

Doch auch an Schulen kommt es zu Übergriffen auf Kinder und Jugendliche: durch Gleichaltrige, aber auch durch Autoritätspersonen wie Lehrerinnen und Lehrer. Nach einer Recherche des Magazins „stern“ gab es seit 2012 231 gemeldete Fälle in Deutschland, bei denen Lehrkräfte sich Schülerinnen oder Schülern sexuell genähert hatten. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen, denn oft wollen Betroffene aus Angst oder Scham nicht erzählen, was ihnen passiert ist.

Marie spricht doch. Sie ist eine Betroffene solcher Übergriffe. 2005 ist sie 16 Jahre alt und geht auf eine Gesamtschule im Rheinland. Sie will ihr Abitur machen, interessiert sich für Musik, spielt in der Schülerband. Diese wird von dem Vertrauenslehrer Herrn G. betreut, der Marie auch in Englisch unterrichtet. Der Anfang 40-Jährige wird zu einer Bezugsperson für die Teenagerin, die zu dieser Zeit mit familiären Problemen zu kämpfen hat. „Er hat sich sehr um mich gekümmert und mir geholfen“, berichtet Marie. „Er hatte so eine lockere und kumpelhafte Art an sich. Weil er Vertrauenslehrer war, habe ich ihm meine Handynummer gegeben.“

Er hatte so eine lockere und kumpelhafte Art an sich. Weil er Vertrauenslehrer war, habe ich ihm meine Handynummer gegeben.
Marie P. (Name von der Redaktion geändert)

Doch dann habe Herr G. begonnen, systematisch Grenzen zu verschieben. Mit anzüglichen Bemerkungen habe es angefangen, dann werden die SMS, die der Lehrer seiner Schülerin schickt, eindeutig sexueller Natur. Irgendwann fragt er, wie sie sich ihr erstes Mal vorstellt. Als er mit der Klasse auf Seminarfahrt ist, versucht er, Marie zu küssen.

Die beiden beginnen, sich außerhalb der Schulzeit heimlich zu treffen. Marie befindet sich in einem Gewissenskonflikt: Einerseits weiß sie, dass eine solche intime Beziehung zu ihrem Lehrer verboten ist, anderseits ist sie seiner emotionalen Manipulation ausgesetzt. „Er sagte, wenn ich unser Geheimnis verrate, wird er alles verlieren, und ich muss die Schule verlassen“, sagt Marie. „Und ich habe meine Schule geliebt.“

Was macht die Schulleitung?

Die Übergriffe bleiben nicht ewig unbemerkt: Maries Freundinnen finden heraus, was vor sich geht, und bringen die Angelegenheit vor die Schulleitung. Doch Herr G. ist bei dem Gespräch dabei, und die eingeschüchterte Marie traut sich in seiner Anwesenheit nicht, die Wahrheit zu sagen. Weder sie noch die Schulleitung erstatten Anzeige gegen Herrn G., der Marie daraufhin drängt, die Spuren ihres Verhältnisses, etwa SMS-Verläufe, zu beseitigen. Marie erfährt zudem, dass ihr Lehrer noch eine Beziehung zu einer ehemaligen Schülerin hat – später, so sagt sie, hätten die beiden sogar ein gemeinsames Kind bekommen und geheiratet.

2006 hält Marie all den psychischen Druck nicht mehr aus und vertraut sich einer anderen Lehrerin an – erneut werden die Schulleitung und diesmal auch die Bezirksregierung Köln als zuständige Behörde eingeschaltet. Nun passiert etwas: Herr G. wird freigestellt und ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Die Bezirksregierung Köln lädt Marie als Zeugin zu einer Anhörung vor, um sich zu den Vorwürfen gegen ihren Lehrer zu äußern.

Er hat es so dargestellt, als sei alles meine Schuld, weil ich meinen Lehrer verführt hätte.
Marie P. (Name von der Redaktion geändert)

Eine Vorladung als Opfer – vergleichbar mit einer Nebenklage vor Gericht – sei im Rahmen eines Disziplinarverfahrens nicht möglich, teilt die Bezirksregierung Köln auf Anfrage der Rundschau mit. Zudem sei die Bezirksregierung grundsätzlich dienst- und personalrechtlich tätig, nicht als eine strafrechtlich ermittelnde Behörde. Heute werde seitens der Bezirksregierung aber bei Verdacht auf sexuelle Übergriffe durch Lehrkräfte grundsätzlich Strafanzeige gestellt.

Für Marie sei die Anhörung 2006 extrem schwer gewesen, weil der Anwalt ihres Lehrers dabei sein durfte, erinnert sie sich: „Er hat es so dargestellt, als sei alles meine Schuld, weil ich meinen Lehrer verführt hätte.“ Herr G. wird an eine andere Schule versetzt, den Kontakt zu Marie bricht er ab. „Ich weiß nicht, welche Strafe er genau bekommen hat. Vielleicht hat er ein paar Jahre etwas weniger Gehalt gekriegt“, sagt Marie. „Mir hat niemand etwas gesagt, außer, dass er nach den Ferien nicht mehr zurückkommen wird.“

Mir hat niemand etwas gesagt, außer, dass er nach den Ferien nicht mehr zurückkommen wird.
Marie P. (Name von der Redaktion geändert)

Ob die Leitung der neuen Schule des Lehrers damals über die Vorwürfe gegen ihn informiert wurde oder nicht, sei heute nicht mehr nachvollziehbar, so die Bezirksregierung Köln. 2020 wendet sich die erwachsene Marie, die mittlerweile im Ausland lebt und arbeitet, selbst mit einem anwaltlichen Schreiben an die neue Schulleitung ihres ehemaligen Lehrers.

Sie erzählt ihre Geschichte, berichtet, dass Herr G. gegenüber Schülerinnen sexuell übergriffig geworden ist. Die Bezirksregierung Köln schickt daraufhin einen Antwortbrief, in dem sie Marie auffordert, von weiteren Schreiben an die Schule abzusehen – den Vorwürfen gegen den Lehrer sei damals schon entsprechend nachgegangen worden. Außerdem, so heißt es in dem Antwortbrief, der der Rundschau vorliegt, könne man „über den Verlauf des Disziplinarverfahrens allein schon aus datenschutzrechtlichen Aspekten keine Auskunft geben.“

Akteneinträge werden gelöscht

Das bestätigt die Bezirksregierung auch gegenüber der Rundschau. Das Disziplinarverfahren gegen Herrn G. „ist im Sommer 2006 abschließend bearbeitet worden. Auch aufgrund des anwaltlichen Schreibens lagen keine Wiederaufnahmegründe vor“, so die Behörde in einer Stellungnahme. Hinzu kommt: Nach Disziplinarverfahren greifen Tilgungsfristen, nach denen die Eintragungen aus der Akte einer Lehrkraft gelöscht werden.

Die Frist in NRW „ist abhängig von der festgelegten Disziplinarmaßnahme und beträgt zwischen zwei und sieben Jahren nach der Unanfechtbarkeit der Entscheidung“, erklärt die Bezirksregierung. „Danach sind Eintragungen grundsätzlich zu entfernen.“ Nur im Falle eines laufenden Strafverfahrens könne keine Löschung der Eintragungen vorgenommen werden. Marie kann das nicht nachvollziehen. Das Aufarbeiten von schon geschehenen und das Verhindern von neuen Übergriffen werden ihrer Meinung nach dadurch erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht.

Die junge Frau hat sich nach dem Abitur ein neues Leben aufgebaut, doch was ihr als Jugendliche passiert ist, lässt sie nie ganz los. Ihr ehemaliger Lehrer ist bis heute auf der Homepage der Schule, an die er versetzt wurde, als Mitglied des Kollegiums gelistet.


„Verfahren sind uneinheitlich“

Kerstin Claus ist Unabhängige Beauftrage für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs. Ein Interview mit Carolin Raab.

Sind wir als Gesellschaft für das Thema Missbrauch an Schulen ausreichend sensibilisiert und weiß man überhaupt genug darüber?

Konkrete Fallzahlen sind nicht bekannt. Das gilt nicht nur für Schule, sondern für nahezu alle Tatkontexte. Deshalb fordern wir eine Prävalenzforschung, damit wir endlich repräsentative Ergebnisse zur Häufigkeit haben – und damit kontinuierlich auch erfassen können, welche Maßnahmen wirken oder ob sich Tatkontexte verändern. Diese Daten brauchen wir, um politisch gegenzusteuern oder Fortschritte entsprechend sichtbar zu machen und konsequent auszubauen. Deshalb setzen wir uns auch für ein Zentrum für Prävalenzforschung und die entsprechenden Forschungsgelder ein.

Was können Schulen, Eltern, Behörden konkret tun, damit Missbrauchsfälle an Licht kommen und geahndet werden?

Öffentliche Beschwerdewege sind in den Bundesländern ebenfalls unterschiedlich. Bremen beispielsweise geht hier mit gutem Beispiel voran. Dort wurde eine landesweite Arbeitsgruppe gebildet, die alle schulischen Fälle bearbeitet – und zwar ressortübergreifend, also unter Einbeziehung zum Beispiel der Schulverwaltung, der Polizei und Justiz sowie externer Expertise wie aus der spezialisierten Fachberatung. Aktuell gemeldete Fälle werden so gemeinsam beraten und wenn nötig in Disziplinarverfahren überführt. Niedrigschwellige Beschwerdestrukturen in den Schulen sind ein weiteres wichtiges Element. Es ist auch sehr wichtig, dass wir als Gesellschaft wissen, was sexuelle Gewalt ist, wie Täter und Täterinnen vorgehen, welche Signale Kinder aussenden und wo wir im konkreten Verdachtsfall Beratung und Unterstützung finden.

Was müsste passieren, damit übergriffige Lehrkräfte nicht mehr als „unbeschriebenes Blatt“ gelten, nachdem Akteneinträge nach Disziplinarverfahren getilgt wurden?

Schule ist Ländersache. Die Regelungen in den Bundesländern zu den Fristen und zum Umgang mit den Verfahren sind leider sehr uneinheitlich. Wir haben dazu keine vertieften Kenntnisse. Ich bin aber sehr dafür, eine Debatte hierzu zu führen, damit wir über Landesgrenzen hinweg zu einer Vereinheitlichung der Anwendung disziplinarrechtlicher Regelungen kommen.

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