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Migrationsforscher im Interview„Die größte Flüchtlingswelle der Welt seit 1945 droht“

4 min
Messehalle Flüchtlinge in Köln

Die Messehallen in Köln sind für Flüchtlinge bereit. 

  1. Immer mehr Menschen verlassen wegen des Ukraine-Krieges ihr Land. Das ist erst der Anfang, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus im Interview mit Marion Trimborn.
  2. Der Osteuropa-Experte rechnet mit der größten Flüchtlingswelle der Welt seit 1945. Was folgt daraus?

Herr Knaus, wegen des Kriegs sind bereits mehr als hunderttausend Ukrainer nach Deutschland gekommen. Rechnen Sie mit der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa?

Ja, das wird es ganz sicher – und das ist ja erst der Anfang. Allein in einer Woche sind eine Million Menschen gekommen, das sind so viele Flüchtlinge wie im Bosnienkrieg, und der hat drei Jahre gedauert.

Wovon wird der weitere Flüchtlingsstrom abhängen?

Davon, wie der Krieg verläuft. Aber die Art der Kriegsführung, die Wladimir Putins Armee bereits in Tschetschenien, Syrien und in der Ostukraine betrieben hat, führt immer zu enorm hohen Zahlen von Vertriebenen, weil sie so brutal ist. Er lässt Städte belagern und Infrastruktur zerstören. In Tschetschenien mit 1,4 Millionen Einwohnern wurde in dem von Putin geführten Krieg im Jahr 2000 ein Viertel der Bevölkerung innerhalb weniger Monate vertrieben. Wenn man das auf die Ukrainer anwendet, dann wären das zehn Millionen ukrainische Flüchtlinge. Diese werden in andere Länder Europas kommen. Das könnte nicht nur die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa werden – das ist sie bereits –, sondern die größte Flüchtlingskatastrophe der Welt seit damals. Die letzte vergleichbare Fluchtbewegung waren die zehn Millionen Menschen, die 1971 bei der Gründung von Bangladesch nach Indien geflohen sind.

Warum Firmen Geflüchtete als Mitarbeiter einstellen

Etwa acht Prozent der Betriebe, die bereits Erfahrung mit ausländischen Arbeitskräften gemacht haben, stellen einer Studie zufolge auch Geflüchtete ein. Bei Betrieben ohne diese Erfahrung ist der Anteil mit knapp zwei Prozent deutlich geringer, wie aus einer am Dienstag veröffentlichten Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht.

Unternehmen, die bereits Ausländer beschäftigen, haben nach der Einschätzung des IAB-Forschers Sekou Keita einen Erfahrungsvorsprung: „Diese Betriebe können möglicherweise im Ausland erworbene Ausbildungen oder mitgebrachte Arbeitserfahrungen besser einschätzen“, sagte er. Weitere Gründe könnten sein, dass Geflüchtete in Branchen aktiv sind, in denen die mitgebrachten Fähigkeiten eher den Stellenanforderungen entsprechen.

Die Beschäftigung von Geflüchteten steigt stetig. In den ersten Jahren seit der Ankunft 2015/2016 waren laut Studie rund die Hälfte der Geflüchteten in der Zeitarbeit und im Handel und dem Bau- oder Gastgewerbe tätig. (epd)

Wie erklären Sie es sich, dass ukrainische Flüchtlinge überall in Europa willkommen sind? Sogar in Polen und Ungarn, die 2015 keine Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen wollten?

Das liegt einerseits daran, dass es ein Nachbarland ist und dass diese Menschen das Recht hatten, legal in die EU einzureisen. Es besteht Visa-Freiheit, kein Ukrainer braucht einen Schmuggler oder kommt irregulär. Die Empathie in der Gesellschaft ist aber auch enorm, weil man sich auch in Mitteleuropa mit dem Schicksal der Ukrainer, die gegen eine russische Invasionsarmee kämpfen, sehr leicht identifizieren kann. Diese Geschichte kennen Ost- und Westeuropäer.

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Wie wichtig sind die Staatsführer?

Sehr wichtig. Die Rollen sind auch klar verteilt: Auf der einen Seite ist da die Ukraine, mit einem charismatischen Führer, Präsident Selenskyi, mit dessen Mut sich jeder identifizieren kann und der sehr eindringlich diesen Angriff auf die Demokratie verständlich macht. Mit einem Boxweltmeister Klitschko als Bürgermeister der Hauptstadt Kiew und mit vielen jungen eloquenten Ukrainern. Auf der anderen Seite ist die Karikatur eines Bösewichts: Putin, der im Kreml an seinem langen Tisch sitzt und davon redet, ein Land zu entnazifizieren, das einen Juden als Präsidenten hat. Dieser Kontrast ist so dramatisch, dass selbst die, die bis vor kurzem noch für Verständnis für Putin geworben haben, verstummt sind.

Ukraine Flüchtlinge Hannover

Ukraine-Flüchtlinge in Hannover

2015 warb Kanzlerin Angela Merkel mit dem Satz „Wir schaffen das“ für die Aufnahme von mehr als einer Million syrischer Flüchtlinge. Schafft Deutschland das diesmal auch – und wovon hängt das ab?

Es ist entscheidend, dass die Bundesregierung zügig einen Plan vorlegt, wie sie Flüchtlinge aus der Ukraine versorgt und unterbringt. Gleichzeitig sollte sich Deutschland für ein internationales Team mit einer klaren Aufgabe einsetzen und für die Aufnahme von Flüchtlingen in ganz Europa werben, bei Staaten, Städten, Regionen. Es muss sofort eine Liste geben, wie viele Menschen wo aufgenommen werden können, dann können Reiseunternehmen, Fluglinien oder das Militär die Aufgabe des Transports übernehmen. Dabei müssen wir hier in den Dimensionen der Berliner Luftbrücke von 1948 denken – und dies als Geschichte weitererzählen, die das Beste in uns hervorbringt. Denn Empathie ist eine Ressource, die durch das Erzählen von Geschichten wächst. Mit der richtigen Organisation kann sie Berge versetzen.