Der russische Präsident hat sich gegen den Putschversuch seines einstigen Schützlings Jewgeni Prigoschin gestellt – und zitiert die in der deutschen Geschichte berühmt gewordene Erzählung vom „Dolchstoß in den Rücken“. Was will er damit erreichen?

Prigoschins PutschversuchWie Wladimir Putin seine Dolchstoßlegende nutzen könnte

Söldnerführer Jewgeni Prigoschin zeigt sich am Samstagmorgen in der südrussischen Stadt Rostow am Don.
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Jewgeni Prigoschin hat sich verrechnet. Wladimir Putin aber auch. Jahrelang hat der russische Präsident einen Schwerverbrecher gefördert, der systematisch eine Privatarmee aufbaute und im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seine ganz eigenen Ziele verfolgte. Das alles ging unter Putins Schutz glatt durch, während publizistische Kritik am Krieg mit 25 Jahren Haft bestraft werden kann. Was hat Putin da eigentlich erwartet?
Der russische Präsident hat offenbar eine ganze Nacht gebraucht, bis er sich entschied, sich mit seiner Dolchstoß-Rede eindeutig gegen den Putschversuch seinen bisherigen Schützling Prigoschin zu stellen. Noch am Freitagnachmittag, bei seinen Tiraden über vorgeschobene Kriegsgründe und vom russischen Verteidigungsministerium versteckte Soldatenleichen, schien sich der Söldnerchef in der Gnade des Präsidenten zu wähnen. Jener Gnade, ohne die er sich sein gesamtes Auftreten niemals hätte leisten können, nicht seine eigenmächtigen Militäroperationen, nicht seine Privatjustiz mit Vorschlaghämmern, nicht die Verschleppung und Misshandlung eines russischen Offiziers und nicht seine Kontakte mit dem ukrainischen Militärgeheimdienst. Jetzt ist aus der Rebellion gegen die Militärführung eine gegen Putin selbst geworden.
Putin musste reden, erst recht, nachdem Prigoschin schon durch Rostow am Don stolziert war und sich dabei filmen ließ.
Putin musste reden, erst recht, nachdem Prigoschin schon durch Rostow am Don stolziert war und sich dabei filmen ließ. Die Bilder aus der südrussischen Großstadt, aufgenommen angeblich vor der russischen Befehlszentrale für den Krieg gegen die Ukraine, zeigen ja, wohin Putins halsbrecherische Politik geführt hat. Sein ganzes Herrschaftssystem beruht darauf, seine Paladine gegeneinander auszuspielen – Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow hier, Prigoschin und andere Söldnerführer sowie deren jeweilige Anhänger im Militär da. Hinzu kommen eher kriegsferne Technokraten wie Ministerpräsident Michail Mistuschin und jede Menge konkurrierender Geheimdienstler.
Auf dieses Spiel hat sich Prigoschin eingelassen und wohl geglaubt, er könne es immer weitertreiben. Den Präsidenten wollte er ursprünglich ja ausdrücklich nicht attackieren, sondern sich das russische Militär unterstellen und damit angeblich den Krieg gegen die Ukraine weiterführen, den er doch erklärtermaßen für überflüssig hält. Aber da Putin nicht gegen seine eigenen Militärs mitputschen will, wird es für Prigoschin nicht einfach sein, noch weitere nennenswerte Truppenteile auf seine Seite zu ziehen über die hinaus, die sich in Rostow und Lipezk schon auf seine Seite geschlagen haben. Aber immerhin standen seine Anhänger am Abend 200 Kilometer vor Moskau, ohne bis dahin auf nennenswerten Widerstand gestoßen zu sein.
Am Ende könnte der Krieg im Kampf um die Macht in Moskau münden – und die ist allen Beteiligten im Zweifel wichtiger als die Kontrolle über ukrainisches Territorium.
Was wird jetzt passieren? Die ukrainische Sicht hat der Kiewer Journalist Denis Trubetskoy süffisant zusammengefasst: „Man wünscht beiden Seiten des Konflikts in Russland viel Erfolg und hofft darauf, dass dieser sich so lange hinzieht wie es nur geht.“
Das passt zu der Analyse, die der Historiker Timothy Snyder schon im letzten Jahr vorgelegt hat: Am Ende könnte der Krieg im Kampf um die Macht in Moskau münden – und die ist allen Beteiligten im Zweifel wichtiger als die Kontrolle über ukrainisches Territorium. Inzwischen, das hat Prigoschin deutlich gemacht, geht es ihm um Putins Sturz. Allerdings könnte es sein, dass Prigoschin zu früh losgeschlagen hat, möglicherweise selbst unter dem Druck einer ihm drohenden Festnahme oder Liquidierung. Auch aus ukrainischer Sicht wäre so eine Eskalation sicher besser ein paar Wochen später passiert, denn noch hält die russische Front. So oder so aber wird der Putsch das russische Militär massiv schwächen, und sei es nur wegen der wohl anstehenden Säuberungen im Offizierskorps.
Was wird zum Beispiel aus Prigoschins altem Freund Sergej Surowikin, dem Luftwaffenchef und immer noch Vizekommandierenden der angeblichen „Spezialoperation“ in der Ukraine? Surowikins bizarrerer Auftritt vom Freitagabend spricht Bände. Der General sitzt an unbekanntem Ort vor einer Rauhfasertapete, trägt keine Rangabzeichen, hat aber eine Maschinenpistole auf dem Schoß. Was wohl zeigen soll, dass er noch im Amt ist, dass er sich aus freien Stücken auf die Seite der Armeeführung gestellt hat und sich nicht etwa als Gefangener unter Druck gegen die Putschisten positioniert. Wenn Surowikin, der als einer der brutalsten, aber auch der fähigsten russischen Generäle gilt, die Geschichte übersteht, ist dennoch wohl der letzte Rest an Vertrauen in der Militärführung dahin.
Die jetzt in die Welt gesetzte Dolchstoßlegende legitimiert jede Grausamkeit bei der Verfolgung angeblicher Verräter.
Das vielleicht am längsten nachwirkende Ergebnis von Prigoschins Putschversuch aber dürfte ein neues Narrativ sein, das Putin mit seiner Anspielung auf das Ende des Zarenreichts 1917 und vor allem mit seinem Wort vom „Dolchstoß in den Rücken“ gesetzt hat. Der Deutschland-Kenner Putin zitiert damit wörtlich jene Legende, mit der die politische Rechte in der Weimarer Republik die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg erklärten. Einen Tag zuvor hatte Prigoschin seine eigenen Ausreden – angeblich haben die Geltungssucht Schoigus und die Interessen von Oligarchen zum Desaster geführt – vorgeschlagen, und passenderweise schrieb Militärblogger „Dmitriew“ am gleichen Tag, dass man die annektierten ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja doch eigentlich gar nicht mehr brauche.
Nun also die Kreml-offizielle Mythenbildung. Putin hat den von ihm entfesselten Krieg ohnehin genutzt, um die letzten verbliebenen Freiheitsrechte in Russland zu streichen, und die jetzt in die Welt gesetzte Dolchstoßlegende legitimiert jede Grausamkeit bei der Verfolgung angeblicher Verräter. Ganz so wie vor 90 Jahren in Deutschland. Für Beobachter im Ausland aber, ob bei der Nato oder in Peking, könnte Putins Dolchstoßlegende Anlass zu leiser Hoffnung sein. Immerhin hat Putin jetzt eine Formel gefunden, dass es ihm ermöglichen wird, auch eine denkbare Niederlage im Inland zu vertreten. Das passt nicht zu einem Mann, der das nukleare Armageddon plan. Eher zur Suche nach einem Ausweg.