Über einen Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg haben G7 und EU beraten. Aber wie kann der größte Krieg, den es seit 1945 in Europa gab, zu einem Ende kommen? SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat von Außenministerin Annalena Baerbock mehr diplomatische Bemühungen verlangt. Fehlt es wirklich daran? Drei Optionen für ein Kriegsende:
Option 1: Verhandlungen
Kalte Dusche aus Moskau: „Davon war nie die Rede“, so lapidar dementierte Kremlsprecher Dmitri Peskow die Darstellung von Umaro Sissoco Embaló, dem Präsidenten von Guinea-Bissau, nach dessen Worten der russische Präsident Wladimir Putin seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj Verhandlungen angeboten habe. Peskow stellte klar: Embalós Job sei es nur gewesen, Kiew über die Position Moskaus zu unterrichten. Und die lautet: Verhandlungen sind erst möglich, wenn die Ukraine zuvor die Forderungen Moskaus akzeptiert. Dazu gehören bekanntlich umfassende Gebietsabtretungen, ein Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft und die sogenannte „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ des Landes. Das käme einer Kapitulation gleich. Der russische Präsident Wladimir Putin wiederum erklärte wiederholt, die Ukraine sei gar kein souveräner Staat. Verhandeln wolle man vielmehr mit Washington, so Außenminister Sergej Lawrow.
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Die ukrainische Armee ist viel zu stark, als dass Kiew und seine Partner auf so etwas eingehen müssten. Sollte es noch Verhandlungsoptionen gegeben haben, dann hat Putin sie vom Tisch genommen, als er Anfang Oktober die ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson annektierte. Selenskyj hat darauf mit einem Dekret reagiert, das Verhandlungen komplett verbietet. Später erklärte das ukrainische Außenministerium, ein russischer Truppenabzug sei Voraussetzung für Gespräche.
Trotz alledem bestehen Kontakte. Kriegsgefangene werden ausgetauscht. Auch das Abkommen über Getreideexporte, das Russland jüngst aufkündigte und nun doch wieder beachten will, war und ist so ein Beispiel. Und natürlich gibt es Gesprächsfäden zwischen Moskau und NATO-Staaten. Das belegten zuletzt die Anrufe des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu und seines Generalstabschefs Waleri Gerassimow, die westliche Kollegen vor einer angeblichen „schmutzigen Bombe“ warnten. Markant: In Berlin riefen sie nicht an. Deutschland, sagte der Militärhistoriker Sönke Neitzel jüngst im ZDF, spiele bei möglichen Verhandlungen „sowieso nicht mit“, denn es sei sicherheitspolitisch ein Zwerg.
Option 2: Militärische Lösung
Während zurzeit kein ernst zu nehmender Experte glaubt, dass Moskau noch große Gebietsgewinne in der Ukraine machen oder gar die ukrainische Regierung stürzen könnte, haben der frühere Kommandeur der US-Truppen in Europa, Ben Hodges, und weitere westliche Analysten bereits im September bei der Denkfabrik Cepa ein Szenario für einen nahezu kompletten Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld vorgelegt. Die laufende Südoffensive bei Cherson werde erfolgreich weitergehen, im Donbass werde die Ukraine einige russisch besetzte Teile zunächst links liegen lassen und zügig aufs Asowsche Meer zu in Richtung Mariupol marschieren. Durch eine weitere Attacke könnte sie das russische Besatzungsgebiet zusätzlich zerschneiden, russische Truppenteile somit voneinander isolieren und dann den Süden zurückerobern. Nicht ganz einig war man sich in der Krim-Frage. Hodges setzte auf rasche Rückeroberung. Mark Hertling, wie Hodges ein früherer Europa-Befehlshaber der US-Armee, warnte vor einem „harten Kampf“.
Klar ist: Die Russen stehen unter Druck. Wie sehr, zeigt die großspurige Ankündigung der Söldnertruppe „Gruppe Wagner“, sie errichte im Donbass eine „Wagner-Linie“ mit Gräben und Panzersperren. „Drachenzähne“ wie bei Hitlers Westwall – aber große Teile des Bezirks Luhansk wären nicht eingeschlossen. Will man die notfalls räumen? Bei Bachmut hat sich eine seit Monaten geführte Offensive von Wagner-Söldnern festgefahren. Derzeit greifen die Russen verstärkt bei Donezk und bei der von Ukraine gehaltenen Stadt Wuhledar an, letzteres nicht ganz unwichtig, denn Wuhledar wäre ein Ausgangspunkt für die von Hodges prognostizierte Mariupol-Offensive.
Und dann gibt es eine große Unbekannte: den Winter. Ein strenger Winter mit tief gefrorenen Böden könnte Offensivoperationen erleichtern und die schlecht ausgerüsteten russischen Truppen zusätzlich unter Druck bringen, aber auch russischen Angriffen auf die ukrainische Energieversorgung mehr Wirkung verleihen. Matschwetter dagegen verlangsamt Offensiven, wie derzeit bei Cherson zu beobachten.
Aber nicht nur solche Überlegungen relativieren Hodges’ optimistische Einschätzung. Russland habe „die schiere Größe auf seiner Seite“, schrieb jüngst der britische Analyst Edward Luttwak. Russland könne noch viele Schlachten verlieren und weiterkämpfen. Auch Neitzel geht von einem langen Krieg aus. Er lobte zwar die Moral der ukrainischen Truppen, „aber ich würde mich fragen, ob sie (die Ukraine) es schafft, die Russen von ihrem Territorium zu verdrängen. Ohne westliche Hilfe geht da jedenfalls gar nichts.“
Option 3: Krise in Moskau
Aber vielleicht ist ein militärischer Kantersieg der Ukraine auch gar nicht erforderlich. Der Yale-Historiker Timothy Snyder erinnert in seinem Blog an Entwicklungen in Russland, die Putin große Sorgen machen müssen.
Die „Gruppe Wagner“, auf die der Diktator neben seiner regulären Armee setzt, ist also die Privatarmee seines bisherigen Vertrauen Jewgeni Prigoschin. Dazu kommen die Truppen des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow. Beide, Prigoschin und Kadyrow, haben die russische Militärführung immer wieder verhöhnt. Behauptungen über eine direkte Konfrontation mit Putin hat Prigoschin allerdings dementiert. Bei der „Wagner-Linie“ und der Bachmut-Offensive agieren Prigoschins Söldner vermutlich unabhängig vom Zentralkommando. Kadyrow hat es sogar abgelehnt, sich an der von Putin verkündeten Mobilisierung von Reservisten zu beteiligen. Prigoschin wirbt Häftlinge und schickt sie in den Tod an der Front.
Snyders Vermutung: Prigoschin und Kadyrow schonen ihre Truppen und bereiten sich auf einen denkbaren Kampf um die Macht in Moskau vor. Es reiche, wenn die Lage so unsicher werde, dass Putin sich zum eigenen Schutz aus der Ukraine zurückziehen müsse: „Für alle Beteiligten mag es schlimm sein, in der Ukraine eine Niederlage zu kassieren, aber weitaus schlimmer wäre es, in Russland zu verlieren.“
Auch das klingt sehr optimistisch. Klar ist aber für das Institute for the Study of War, dass Prigoschin, der auch Medienunternehmer ist, zunehmend zum Machtfaktor wird. Hinzu kommen weitere Risse, vor allem die anhaltende Verunsicherung durch die Teilmobilmachung, die offiziell beendet ist, inoffiziell aber weiterläuft. Es gibt Anschläge auf Rekrutierungsbüros, auf militärisch wichtige Bahnlinien, zuletzt möglicherweise auf einen Militärflugplatz in Pleskau. Die Ukraine tut mit spektakulären Angriffen, zuletzt in Sewastopol, alles dafür, die russische Armee in der Öffentlichkeit weiter herabzusetzen. Die nach Frankreich geflohene russische Ärztin Marija Dmitriewa, die für Militär und den Geheimdienst FSB gearbeitet hatte, berichtet von Spannungen und Ängsten in diesem Geheimdienst. So fürchte man beim FSB eine Machtübernahme durch „Banditen wie Kadyrow“.
Fazit
Die drei Optionen funktionieren nur zusammen: Wenn Putin durch die Kriegslage innenpolitisch so unter Druck geriete, dass er seine für Kiew inakzeptablen Vorbedingungen aufgeben müsste, würden die Chancen für eine diplomatische Lösung steigen.
Putin hofft natürlich auf das Gegenteil: darauf, dass der Westen die Ukraine fallen lässt. Aber: Die EU hat sich seiner Gas-Erpressung nicht gebeugt. Noch weniger hat Moskaus Ankündigung bewirkt, aus dem Getreide-Abkommen auszusteigen. Die Schiffe fuhren weiter, Moskau drehte bei. Russische Nukleardrohungen finden zwar ein gewisses Echo. Die USA haben aber klargestellt, dass sie sich nicht auf eine nukleare Eskalation einlassen würden, während Moskau mit einer massiven konventionellen Reaktion zu rechnen hätte. Putin hat es also nicht geschafft, die westliche Solidarität mit der Ukraine zu brechen. Wie lange er sich dagegen seine ultimativen Forderungen leisten kann, ist sehr die Frage.