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Ukrainischer MarschflugköperFlamingo soll Ziele tief in Russland treffen

4 min
Arbeiter in einer geheimen ukrainischen Fabrik inspizieren Marschflugkörper des Typs Flamingo.

Arbeiter in einer geheimen ukrainischen Fabrik inspizieren Marschflugkörper des Typs Flamingo.

3000 Kilometer weit soll ein neuer Marschflugkörper fliegen können, den die Ukraine jetzt vorgestellt hat. Was könnte sie mit dem Flamingo erreichen? Und was unterscheidet ihn von westlichen Modellen?

Ein Flamingo zum Fürchten: Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat sein Land erfolgreich einen Marschflugkörper dieses Namens getestet, der 3000 Kilometer weit fliegen kann. Schon vor ein paar Tagen hatte die Ukraine einem Journalisten der Nachrichtenagentur AP in die Produktionsstätte des Herstellers Fire Point an einem geheimen Ort geführt und Fotos des Flamingo zugelassen. Was ist davon zu halten?

Wer steckt hinter dem Flamingo-Projekt?

Während die Ukraine ihre Lenkwaffen oft mit imponierenden Namen wie Hrim (Donner), Sapsan (Falke) oder dem des römischen Meeresgottes Neptun dekoriert, beruht der Name Flamingo offenbar auf einem Versehen: Ein Prototyp war pink lackiert worden. Die Ukraine verweist stolz auf die heimische Produktion, hat dafür aber einen auswärtigen Partner gebraucht. Das in Hayes nahe dem Londoner Flughafen Heathrow registrierte, aber in den Vereinigten Arabischen Emiraten tätige Rüstungsunternehmen Milanion hatte im Februar auf der Rüstungsmesse Idex in Abu Dhabi das Modell eines Marschflugkörpers gezeigt: FP5 wie Fire Point 5. Es handele sich offensichtlich um die identische Waffe, so das britische Fachblatt „Defense Express“. Milanion hatte die Ukraine nach eigenen Angaben bereits 2024 mit Roboter-Landfahrzeugen beliefert.

Was soll die neue Waffe leisten?

Nach den von Milanion im Februar genannten Daten hat der FP5  die auch jetzt von Selenskyj genannte Reichweite von 3000 Kilometern, erreicht eine Marschgeschwindigkeit von 850 bis 900 km/st und trägt einen Sprengkopf von einer Tonne Gewicht. Der ukrainische Hersteller Fire Point spricht jetzt sogar von 1,15 Tonnen. Zum Vergleich: Der deutsch-schwedische Taurus trägt einen 450-Kilo-Sprengkopf gut 500 Kilometer weit.

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Überprüfbar sind die Leistungsdaten des Flamingo nicht, aber die Dimensionen der Waffe sind gewaltig. Das Startgewicht erreicht mit sechs Tonnen das Vierfache des Taurus, mit schätzungsweise mindestens zwölf Metern ist der neue ukrainische Marschflugkörper auch mehr als doppelt so lang. Gestartet wird der Flamingo nicht wie der Taurus von einem Flugzeug aus – geeignete Jets hätte die Ukraine nicht –, sondern vom Boden.

Macht der Flamingo den Taurus überflüssig?

Nein, beide Waffen haben ganz unterschiedliche Konzepte. Der Taurus, den die Ukraine nie erhalten hat, und sein von französisch-britisches Schwestermodell Storm Shadow/Scalp, über das sie verfügte, solange der Vorrat reichte, sind hochgezüchtete Systeme. Sie sind durch ihre „Stealth“-Eigenschaften für gegnerisches Radar kaum zu erfassen, und ihre Sprengköpfe haben Zwei-Phasen-Zünder für den Angriff auf Bunker und Brücken. Der Taurus kann auch unabhängig von GPS-Satellitendaten anhand des von Kameras abgetasteten Bodenprofils navigieren.

Von all dem ist bei dem neuen ukrainischen Produkt nicht die Rede. Für den Fall, dass GPS-Signale durch Störsender überdeckt werden, behelfen sich die Flamingo-Konstrukteure mit der weniger präzisen Trägheitsnavigation (vereinfacht gesagt: Prinzip Kreiselkompass). Sie haben auch auf Schwenkflügel oder die Möglichkeit, die Waffe gleich aus einem Transportcontainer heraus zu starten, verzichtet. Oberstes Konstruktionsprinzip war offenbar Einfachheit – bis zu der Entscheidung, das voluminöse Triebwerk auf den Rücken des Marschflugkörpers zu montieren. Das erinnert optisch an Hitlers V1 – gewiss keine von der Ukraine erwünschte Assoziation –, erspart aber den Aufwand, ein extra schlankes Triebwerk zu beschaffen (wie für den Taurus, wo es mangels europäischer Alternativen aus den USA zugekauft werden muss).

Wozu wird der Flamingo dann gebraucht?

Nach allen Erfahrungen mit bisherigen Luftangriffen gehen die Ukrainer davon aus, dass die russische Luftabwehr vor allem im Landesinneren dünn ist – und ihre Waffe also auch ohne „Stealth“-Ausstattung durchkommt. Preisgünstige Marschflugkörper ließen sich kombiniert mit Drohnen einsetzen – so, wie Russland es fast jede Nacht vorführt: Allein in der Nacht zum Donnerstag soll Russland über 570 Drohnen und 33 Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt haben. Mit ihrem simplen, von einem mobilen Startgerüst aus abzuschießenden Marschflugkörper können die Ukrainer dagegenhalten. Sie wären dabei von westlichen Lieferungen unabhängig und könnten Ziele tief in Russland erreichen, sogar hinter dem Ural, theoretisch sogar in Russlands Helferland Iran.

Mit keiner aus dem Westen gelieferten Waffe könnte die Ukraine zum Beispiel die Fabrik im 1300 Kilometer entfernten Alabuga angreifen, deren Shahed-Drohnen Nacht für Nacht die ukrainische Bevölkerung terrorisieren. Und keine Drohne hat auch nur annähernd die Zerstörungskraft des Flamingo. Im Juni richtete eine Drohne überschaubare Schäden in Alabuga an, eine Flamingo-Salve könnte das Werk ausschalten. Und: Schon die bisherigen Drohnenangriffe auf russische Raffinerien sind wirksam (Videos aus Südrussland zeigen lange Schlagen an Tankstellen), aber nach einem Flamingo-Treffer könnte Russland eine Raffinerie nicht wieder innerhalb einiger Wochen in Gang setzen.

Das setzt allerdings voraus, dass der Flamingo in großer Zahl verfügbar ist. Aktuell baue man einen Flugkörper pro Tag, sagte Fire-Point-Technikchefin Iryna Terech per Video. Die Ukraine will die Waffe schon gegen ein Ziel in Russland eingesetzt haben, in sozialen Netzwerken wird ein Angriff auf die Raffinerie in Nowoschachtinsk bei Rostow damit in Verbindung gebracht. Klar ist nur: Für den Fall, dass Russland einen Waffenstillstand weiter ablehnt, ist die Ukraine auf einen langen Kampf eingestellt. Die Massenproduktion des Flamingo, das hat Selenskyj gesagt, startet frühestens Ende 2025. Oder Anfang 2026.