AnalyseWas hinter den Gift-Anschlägen auf Mädchen im Iran stecken könnte

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29.01.2023, Iran, Teheran: Menschen gehen im Stadtteil Shapour im Süden Teherans die Straße entlang.

Teheran: Menschen gehen im Stadtteil Shapour im Süden Teherans die Straße entlang.

Experten sehen politische Motive hinter Attacken auf Mädchenschulen im Iran und wähnen die iranische Regierung hinter den Vorfällen. Offenbar sollen die Proteste von Frauen im Keim erstickt werden.

Schülerinnen ringen um Luft und fallen in Ohnmacht, verzweifelte Eltern holen ihre Kinder aus der Schule und bringen sie ins Krankenhaus: Im Iran haben Unbekannte eine Anschlagswelle mit Giftgas auf Mädchenschulen im ganzen Land gestartet und nach Angaben von Menschenrechtlern mindestens ein Kind getötet und Hunderte weitere Mittel- und Oberschülerinnen verletzt.

Experten sehen staatliche Kräfte hinter den Anschlägen. Mädchen und junge Frauen sollen demnach eingeschüchtert werden, um sie von den Protesten gegen die Regierung fernzuhalten, die seit fast einem halben Jahr die Islamische Republik erschüttern.

Die Menschenrechtsorganisation CHRI, die von New York aus den Iran beobachtet, zählte bis Ende Februar etwa 400 Opfer der Giftgas-Angriffe an mehreren Dutzend Schulen in unterschiedlichen Landesteilen. Andere Schätzungen setzen die Zahl der Opfer mit mehr als tausend an.

Zu den Symptomen zählen Übelkeit und Kopfschmerzen. Opfer berichteten CHRI zufolge, es habe in ihren Klassenzimmern plötzlich nach Mandarinen oder starken Putzmitteln gerochen. Ein Mädchen in der Stadt Qom starb laut CHRI an dem Gas. In einem Fall sollen Männer beobachtet worden sein, die Gaskanister in ein Schulgebäude warfen.

Bisher keine Verhaftungen

Erste Berichte über die Gasangriffe waren im November aufgetaucht. Die Iranische Regierung tat die Meldungen zunächst als Gerüchte ab und erklärte die Symptome mit Erkrankungen der Schülerinnen. Inzwischen sprechen einige Regierungspolitiker aber von gezielten Anschlägen. „Manche Leute wollen, dass die Schulen geschlossen werden, vor allem die Mädchenschulen“, sagte Vize-Bildungsminister Younes Panahi.

Die Islamische Republik, die über einen hochgerüsteten Sicherheitsapparat verfügt, bleibt merkwürdig untätig. Bisher gibt es keine Verhaftungen. Gesundheitsminister Bahram Einollahi deutete an, dass er sich aus der Sache heraushalten will, obwohl er der zuständige Ressortchef ist. Es sei nicht seine Aufgabe herauszufinden, wo das „milde Gas“ herkomme und ob es absichtlich in die Klassenräume gebracht werde, sagte er.

Solche Äußerungen stärken den Verdacht, dass der Staat selbst für die Giftgasangriffe verantwortlich ist. Der türkische Iran-Experte Arif Keskin wies im Gespräch mit unserer Redaktion auf die hohe Zahl der Anschläge und die Verbreitung im ganzen Land hin. „Es gibt im Iran keine außerstaatliche Gruppe, die so etwas organisieren könnte. Das müssen also staatliche Gruppen oder Gruppen mit staatlicher Unterstützung sein“, sagte er. Auch die Art und Weise der Anschläge und ihre Ausführung deutet nach Keskins Einschätzung darauf hin, dass staatliche Experten am Werk sind. „Die Gasmengen werden genau dosiert“, stellt er fest.

Dass Mädchenschulen angegriffen werden, hat nach Ansicht von Beobachtern mit der Rolle von Mädchen und jungen Frauen in der Protestbewegung zu tun. Frauen, die gegen den Kopftuchzwang und für mehr Demokratie auf die Straße gehen, bilden den Kern der Bewegung. Viele Schülerinnen beteiligen sich an den Protesten, indem sie sich ohne Kopftuch in ihrem Klassenzimmer fotografieren. Nach einem Abflauen der Proteste im Dezember nehmen die Demos seit einiger Zeit wieder zu.

Baerbock: Fälle aufklären

Junge Iranerinnen seien die Anführerinnen bei den Protesten, kommentierte die Iran-Expertin Holly Dagres von der US-Denkfabrik Atlantic Council auf Twitter. „Jetzt werden sie gezielt vergiftet.“ Auch Keskin vermutet, dass die Mullah-Regierung die Mädchen mit den Angriffen einschüchtern will. „Ziel ist es, den Schülerinnen Angst einzujagen“, sagte er. Doch er stellt auch klar: „Wir haben bei den Protesten gesehen, dass Universitätsstudentinnen, aber auch Mittel- und Oberschülerinnen keine Angst haben. Sie könnten bald wieder auf die Straße gehen.“ Der Staat wolle das verhindern, indem er die Gasangriffe als Warnung an die Mädchen und auch an ihre Eltern einsetze.

Westliche Regierungen fordern den Iran auf, die Fälle aufzuklären. „Mädchen müssen ohne Angst zur Schule gehen können“, schrieb etwa Außenministerin Annalena Baerbock bei Twitter. Dass ein Regime junge Mädchen angreift, mag auf den ersten Blick unglaublich erscheinen. Keskin meint aber: „Das Regime ist dazu imstande.“ In der Vergangenheit hätten Mitglieder der staatlichen Einsatzkräfte auch schon Säure-Angriffe auf Aktivistinnen verübt. „Das ist Terrorismus“, Keskin weiter.

Bisher gibt es allerdings keine Anzeichen dafür, dass die Einschüchterungstaktik des Staates die gewünschte Wirkung zeigt. Unter den abendlichen Protestparolen in Teheran ist seit kurzem ein neuer Slogan zu hören, wie Videos in den sozialen Medien zeigten: „Tod den Kindermördern“, skandieren die Demonstranten.

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