Friedrich Merz sprach über Migrationsprobleme im „Stadtbild“ – und weigert sich, seine Aussage zu präzisieren. Stattdessen verweist der Kanzler auf die „Töchter“ seiner Kritiker. Die umstrittene Äußerung löst eine hitzige Debatte aus
„Fragen Sie mal Ihre Töchter“Wie Merz' Stadtbild-Äußerung Deutschland spaltet

Teilnehmer der Kundgebung „Wir sind die Töchter“ der Initiative „Zusammen Gegen Rechts“ halten vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle Handy-Lichter hoch. Die Kundgebung bezieht sich auf die Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz zum „Stadtbild“.
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Wie hat Friedrich Merz das bloß gemeint mit seiner Stadtbild-Äußerung? Er selbst sagt: Wer’s nicht kapiert, soll einfach die eigene Tochter fragen. „Ich bin ja auch Tochter“, reagiert Komikerin Carolin Kebekus im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Und ganz ehrlich – das größte Problem, das ich mit dem Stadtbild habe: E-Roller.“
Ähnliche Kommentare in Form von Memes, Reels und TikToks werden derzeit in den sozialen Netzwerken x-fach geteilt. Da fährt der Kanzler im „Merz-Mobil“ durch die Stadt und sammelt Migranten ein. Eine Familie verlässt ihre Wohnung, frei nach dem Motto: „Wir sind auf dem Weg, das deutsche Stadtbild zu ruinieren.“ Und Töchter stellen klar, dass es ihres Erachtens sexistische und chauvinistische Männer sind, die nicht ins Stadtbild passen.

Eine Frau hält ein Protestschild bei der Kundgebung „Wir sind die Töchter“ der Initiative „Zusammen Gegen Rechts“ vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle.
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Enthüllungsjournalist Günter Wallraff appelliert über die dpa an Merz: „Gehen Sie in sich!“ Mit seiner Aussage stigmatisiere er ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe. Die Äußerung von Merz polarisiert wie wohl noch keine andere seit Beginn seiner Kanzlerschaft. Hinter der aufgeheizten Debatte steht die Frage: Wer gehört zu Deutschland? Und wer nicht und wer ist vielleicht sogar eine Bedrohung?
Auch auf Nachfrage keine Klarheit
Der CDU-Chef hatte vor einigen Tagen über Fortschritte in der Migrationspolitik gesprochen und ergänzt: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Nach viel Diskussion um diese Aussage wurde Merz gebeten, zu erklären, was genau er damit gemeint habe. Darauf erwiderte er: „Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort.“
Es ist die Art von Merz, auch mal „frei von der Leber weg“ zu reden, was grundsätzlich den Vorteil der Bürgernähe hat, aber auch das Risiko der verunglückten Formulierung in sich birgt. Dass er in diesem Fall auch auf Nachfrage hin keine Klarheit schafft, deutet auf eine bewusste Strategie hin.
„Diese Unschärfe ist nicht zufällig, sondern politisch kalkuliert“, sagt die Soziologin Nina Perkowski von der Universität Hamburg, eine Expertin für Gewalt- und Sicherheitsforschung. „Sie produziert die Ängste, die sie vorgibt zu beschreiben.“
Für besonders problematisch hält Perkowski das Nachschieben, man solle „mal die Töchter fragen“. Damit instrumentalisiere Merz Frauen und erwecke den Eindruck, aus dem Ausland stammende Männer seien die größte Bedrohung für junge Frauen.
„Das lenkt von den Fakten ab: Gewalt gegen Frauen findet überwiegend im häuslichen Umfeld und durch Bekannte statt.“ Die Metapher des „Stadtbilds“ suggeriere zudem, man könne auf den ersten Blick erkennen, wer zu Deutschland gehört und wer nicht – „eine Vorstellung, die schlicht falsch ist“.
Historikerin überrascht von der Debatte
Anders fällt die Analyse von Katja Hoyer aus, Historikerin aus Brandenburg, bekanntgeworden mit dem Buch „Diesseits der Mauer“ über die DDR-Geschichte und seit 14 Jahren in Großbritannien lebend. „Ich bin eigentlich eher von der Heftigkeit der Debatte in Deutschland überrascht als von der Äußerung von Merz“, sagt die 40-Jährige.
„Denn Umfragen zeigen ja deutlich, dass dieses Thema durchaus da ist, dass dieses Störgefühl von vielen Menschen geteilt wird. Ungefähr zwei Drittel sagen, dass sie weniger Migration möchten.“
Die stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union, Nicola Gehringer, führt Einlasskontrollen in Schwimmbädern und die immer strengere Absicherung von Weihnachtsmärkten an – das hänge „nun mal auch mit Migration zusammen“. Unionsfraktionschef Jens Spahn verweist auf Hauptbahnhöfe: „Drogendealer, junge Männer, meistens mit Migrationshintergrund, meistens Osteuropa oder arabisch-muslimischer Kulturraum“.
Im NRW-Wahlkampf Stadtbild großes Thema
Parteien wie die CDU dürften das Thema nicht der AfD überlassen, sagt Hoyer. „Man hat das ja auch bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen gesehen: Die SPD-Oberbürgermeister, die da wiedergewählt worden sind, waren Leute wie Sören Link aus Duisburg, die auch über das Stadtbild sprechen, sowohl was Müll und Verwahrlosung als auch was Kriminalität und Migration angeht. Es ist die Frage, wie wir als Einwanderungsgesellschaft leben wollen, auch bestimmte Werte beibehalten, die uns wichtig sind, aber nicht von allen Einwanderungsgruppen mitgetragen werden.“
Es gehe darum zu vermitteln, dass die Mitte des politischen Spektrums das Problem ernst nehme, damit aber differenzierter umgehe als die Randparteien.
Soziologin Perkowski glaubt nicht, dass es Konservativen hilft, rechte Rhetorik zu übernehmen – im Gegenteil. „Das stärkt die AfD doppelt: Einerseits wird ihre Weltsicht als legitimer Ausgangspunkt akzeptiert. Andererseits wecken solche Aussagen Erwartungen, die nicht erfüllt werden können.“ Denn um das Erscheinungsbild deutscher Städte spürbar zu verändern, müsste Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) schon sehr, sehr viele Menschen abschieben.
AfD-Themen zu übernehmen nutzt nur der AfD
Andreas Zick, Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, bestätigt: „Alle Studien zeigen, dass es keinen Sinn macht, die Thesen des politischen Gegners zu übernehmen.“ Es nutze immer nur dem Original, in diesem Fall der AfD. Die warb übrigens im Wahlkampf in Gelsenkirchen mit einem Bekenntnis zum „gepflegten Stadtbild“.
Auch Historikerin Hoyer kritisiert, dass sich Merz zu unpräzise ausgedrückt und damit Menschen vor den Kopf gestoßen habe. Sie sagt aber auch, dass im Umgang mit rechtspopulistischen Parteien bisher noch niemand in Europa ein Rezept gefunden habe. „Die Stadtbild-Frage ist ja eine, die gerade in vielen westlichen Einwanderungsländern heftig diskutiert wird. In Großbritannien gibt es diese Debatte schon viel länger, weil Großbritannien auch schon viel länger ein Einwanderungsland ist.“
Der Zustrom von zuletzt fast einer Million Migranten pro Jahr habe dazu geführt, dass in vielen Regionen Probleme entstanden seien, Wohnungsmangel sei nur eines davon. Labour-Premier Keir Starmer warnte davor, Großbritannien könne zu einer „Insel der Fremden“ werden – später bedauerte er allerdings seine Wortwahl.
Die Stadtbild-Diskussion bietet für fast jeden Anknüpfungspunkte. Über Verwahrlosung ärgern sich viele, andere finden es nicht gut, dass die altvertraute Konditorei schließt und dafür vielleicht eine Shisha-Bar öffnet. In jeder Stadt gibt es Ecken, an denen man im Dunklen schneller geht. Die Politik muss die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Konsens in der Wissenschaft ist aber: Wenn man darüber sprechen will, sollte man das sachlich tun – und möglichst klar sagen, was man meint. dpa