Computerspielsucht„Ich hätte mein Leben jederzeit eingetauscht, um virtuell zu leben“

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Wenn die Gedanken nur noch um das eine kreisen: zurück an den Computer, zurück zum Spiel, spricht man von Gaming Disorder oder Computerspielsucht.

Bochum – Meistens fängt es ganz harmlos an. Hier ein wenig daddeln mit Freunden, da mal ein neues Spiel ausprobieren, alles in Maßen. Doch dann kommt der Moment, in dem das Abschalten schwerfällt. Die Gedanken kreisen nur noch um das eine: zurück an den Computer, zurück zum Spiel. Das ist der klassische Beginn einer Sucht, die es offiziell erst seit diesem Monat gibt: Die Gaming Disorder oder Computerspielsucht, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nun erst in den Katalog der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen hat.

Hohes Risiko zum Missbrauch der Diagnose

Schon seit Jahren warnen Schulen, Medien und Wissenschaftlern vor den Konsequenzen von Computerspielen, berichten von Jugendlichen, die ihr Leben vor dem Bildschirm verzocken. Doch das Phänomen ist noch sehr jung, valide Forschungen in dem Bereich gibt es bisher nur wenige. Deshalb sind auch nicht alle Wissenschaftler glücklich mit der Entscheidung der WHO. So warnte der Psychologe Dr. Andrew K. Przybylski von der University of Oxford in einem mit rund 30 Kollegen erstellten Paper davor, dass ein hohes Risiko zum Missbrauch der Diagnose besteht. Es müsse immer individuell geprüft werden, ob bei exzessiv spielenden Patienten nicht eher zugrunde liegende Probleme wie Depression oder soziale Angststörungen behandelt werden müssten.

Bis zu 16 Stunden täglich gezockt

Dass die Ursprünge der Sucht sehr komplex sein können, weiß auch der 28-jährige Damian Schmidt * (Name von der Redaktion geändert). Er kämpft seit seiner Jugend mit den Auswirkungen seiner Online-Spiele-Sucht. Bis zu 16 Stunden hat er damals täglich gezockt, die Schule deswegen abgebrochen, den Kontakt zu Freunden eingestellt. Seine Eltern waren machtlos, kamen nicht mehr an ihn ran. Seine Rettung kam schließlich ganz zufällig: „Eines Tages habe ich dann einen alten Bekannten wiedergetroffen, mit dem ich dann öfter mal was unternommen habe. Das hat mich das erste Mal weggebracht vom Spielen, weil ich gesehen habe, was andere im Vergleich zu mir so aus ihrem Leben gemacht haben.“

„Die Drogensuchtberatung konnte mit meinen Problemen nicht viel anfangen“

Damian wollte etwas ändern – doch ganz so einfach war es nicht. „Mit 19 war ich bei einer Drogensuchtberatung, also für normale Drogen. Die konnten nicht viel mit meinen Problemen anfangen. Das hat mich sehr enttäuscht, deswegen habe ich erst einmal die Motivation verloren.“

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Ein besonders süchtig-machender Faktor bei vielen Computerspielen ist die Tatsache, dass sie online stattfinden.

Gerade weil die Computer-Spielesucht bisher noch keine anerkannte Krankheit war, gab es lange Zeit nur wenige Beratungsstellen zu diesem speziellen Sucht-Problem. Auch die Medienambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität in Bochum hat erst 2012 ihre Pforten geöffnet. Inzwischen bietet sie vielen Betroffenen therapeutische Hilfen zum Thema Computerspielsucht und Cybersexabhängigkeit an und beforscht die neuen internetbezogenen Verhaltenssüchte.

„Standardisierte Therapiemaßnahmen für die Mediensucht gibt es nur sehr begrenzt“

Auch Damian ist hier in Behandlung, kommt wöchentlich zur Gruppentherapie, in der er mit den meist männlichen Mitpatienten seine Probleme bespricht. „Standardisierte Therapiemaßnahmen für die Mediensucht gibt es nur sehr begrenzt“, erklärt der Leiter der Einrichtung, Dr. Jan Dieris-Hirche. Bei ihm sind nicht nur Computerspiel-Süchtige in Behandlung, viele seiner Patienten seien auch abhängig von Cybersex. „Zur Behandlung der Sucht gibt es verschiedene Faktoren, die wir uns individuell bei und mit den Patienten anschauen.

Zunächst gilt es zu verstehen, welche Online-Computerspiele und Internetangebote bei den Betroffenen suchthaftes Verhalten auslösen. Hinzu kommen die psychischen Dispositionen und Persönlichkeitscharakteristiken, die der Betroffene mitbringt. Schließlich betrachten wir begleitende soziale Faktoren, wie zum Beispiel Mobbing, Scheidung oder Arbeitslosigkeit, die auch für die Suchtentwicklung relevant sein können.“

Hier konnte er ein Held sein, kein schüchterner Junge mehr

Für Betroffene und deren Angehörige hat die Klinik vor zwei Jahren außerdem ein Pilotprojekt auf den Weg gebracht: den Online-Ambulanz-Service für Internetsüchtige (OASIS), eine webcambasierte Online-Beratung samt Selbsttestung für Betroffene und Angehörige, um eine potentielle Sucht besser einschätzen zu können. Das Angebot soll erste Hürden in der Kontaktaufnahme senken und Veränderungsmotivation steigern – Selbsterkenntnis ist schließlich immer der erste Schritt zur Besserung.

Ein besonders süchtig-machender Faktor bei vielen Computerspielen ist die Tatsache, dass sie online stattfinden. Daraus ergibt sich eine Unendlichkeit, die viele in ihren Bann zieht, erklärt Dieris-Hirche. Das bestätigt auch Damian, wenn er von seinen Erlebnissen mit dem Spiel „World of Warcraft“ erzählt: „Als ich es das erste Mal gespielt habe, war ich total geflasht von all den Möglichkeiten. Es ist eine riesige Welt, es gab überall Neues zu entdecken.“ Im Gegensatz zu seinen Kumpels, die meistens nur Fußball-Spiele auf der Konsole gespielt haben, fand Damian diese Fantasy-Welt reizvoll. Hier konnte er ein Held sein, kein schüchterner Junge mehr.

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Beim Online-Fantasy-Game „World of Warcraft“ konnte Damian* ein Held sein, kein schüchterner Junge mehr. 

„Ich wusste, im Spiel bin ich eh der Geilste.“

Als Avatar konnte er sich eine ganz neue Persönlichkeit aufbauen: „Ich hätte mein Leben jederzeit eingetauscht, um virtuell zu leben“, sagt er rückblickend. Die anfängliche Faszination für das Spiel wich dann irgendwann einem extremen Ehrgeiz: Es ging nur noch darum, besser zu sein als alle anderen. „Vieles, was sich innerlich angestaut hat, lässt man im Spiel raus“, weiß er heute und fügt hinzu: „Ich habe gar nicht versucht, im realen Leben etwas zu sein, weil ich wusste, im Spiel bin ich eh der Geilste.“

Trotzdem habe er immer wieder versucht, von der Gaming-Sucht wegzukommen, hat ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht, eine Ausbildung angefangen – und versucht, das Spielen aus seinem Leben zu verbannen. „Doch in dem Moment, in dem ich aufhöre zu spielen, habe ich nichts mehr zu tun“, erzählt er. Zur Kompensation hat er sich andere Beschäftigungen gesucht, mal Musik gemacht, mal Sport - aber alles exzessiv, reflektiert er. „Spielen ist gar nicht das Problem selbst. Man hat eher viele Probleme und das Spiel ist wie eine Mauer direkt vor dem Müllberg dieser Probleme. Wenn man sie einreißt, muss man lernen, diesen Müll Stück für Stück zu bewältigen.“

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Alles, was andere in ihrer Jugend gelernt haben, muss er sich nun mühsam erarbeiten

In der Therapie lernt er nun, sinnvoll mit seiner Sucht umzugehen, statt sie nur zu kompensieren – und damit auch sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Alltagsfähigkeiten wie Behördengänge zu tätigen oder soziale Kontakte zu pflegen, lerne er jetzt zum ersten Mal, sagt er. Alles, was andere in ihrer Jugend gelernt haben, muss er sich nun mühsam erarbeiten. Den Computer hat er aber nicht aus seinem Leben verbannt, immerhin braucht er ihn dringend für sein Studium, das er inzwischen angefangen hat. Auch das Smartphone nutzt Damian wie jeder andere. Nur muss er immer wieder aufpassen, dass es ihm nicht entgleitet. So habe er eine Zeit lang die Dating-Plattform Tinder genutzt, musste aber schließlich aufhören, als ihm auffiel, dass es ihm nicht mehr ums Daten ging – sondern nur noch darum, die App wie ein Spiel zu nutzen. Richtige Computerspiele wie World of Warcraft musste er allerdings ganz aus seinem Leben streichen, erzählt er. Zu hoch sei die Gefahr, sich wieder in der Unendlichkeit des Spiels zu verlieren.

Denn in dieser Hinsicht funktioniert die Computerspielsucht genau wie jede andere klassische Sucht: Wer einmal in ihren Fängen war, wird sich niemals mehr ganz von ihr befreien können. Sie folgt einem wie ein Schatten – mit dem man allerdings lernen kann zu leben.

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