Autor der KinderbuchklassikerErich Kästner wird 125 Jahre alt – und ist so aktuell wie lange nicht

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Collage: Szene aus dem Kinderbuch Emil und die Detektive, Freisteller von Erich Kästner

„Emil und die Detektive“, dieser Kinderbuchklassiker hat Erich Kästner vor 95 Jahren berühmt gemacht.

Niemand vor ihm hat Kinderliteratur so ernst genommen, kaum jemand so viele Autoren geprägt: Zum Jubiläum blicken wir auf Kästner und sein Werk.

Eine Zeit lang begegnete mir Erich Kästner nur in Kaninchenform. Oder besser gesagt: Seine Figuren Pünktchen und Anton. Eine sehr gute Freundin hatte ihre beiden Kaninchen so genannt, weil sie das gleichnamige Buch von Kästner sehr schätzt. Die starken Charaktere, das Thema der sozialen Ungleichheit, das gute und vor allem gerechte Ende. Anton war dann auch ein ganz liebes und gutmütiges Tier, ähnlich wie der Musterknabe im Original. Pünktchen hatte zwar, wenn ich mich recht entsinne, eine gepunktete Fellzeichnung, und sie war auch, genau wie das Mädchen im Buch, ein wenig verrückt. Allerdings war sie zudem ganz schön aggressiv: Sie schnappte und biss, ließ sich nicht berühren, riss bei ihren Freigängen in der Wohnung halbe Tapetenbahnen von den Wänden und überlebte mehrere Männchen. Ein nicht besonders sympathisches Wesen also.


Obwohl Pünktchens Eltern wohlhabend sind, geht das Mädchen jeden Abend betteln – denn ihre Kinderfrau wird von ihrem Verlobten erpresst. Dabei lernt Pünktchen Anton kennen, der in sehr ärmlichen Verhältnissen lebt und die kranke Mutter unterstützen muss. Obwohl die Kinder in verschiedenen Welten leben, freunden sie sich an. Als sie herausfinden, dass der Verlobte der Kinderfrau Pünktchens Eltern ausrauben will, gelingt es ihnen gemeinsam, den Dieb verhaften zu lassen.  


Erich Kästner hätte es sicherlich gefallen, dass sein Werk fast hundert Jahre überdauert. Dass es ein Mädchen, geboren in den 1980er Jahren, so beeindruckt hat, dass es noch als Erwachsene geliebte Haustiere nach von ihm erschaffenen Protagonisten benennt. Dass heute viele Schulen seinen Namen tragen, wie das Erich-Kästner-Gymnasium in Köln-Niehl. Und auch, dass seine Bücher immer wieder als moderne Kinofilme, Comics und Hörspiele adaptiert werden. Was Kästner wohl auch gefallen hätte, das hoffe ich zumindest, ist das tierische Vorwort. Er selbst nämlich war ein so großer Fan von Vorworten, dass er schon von Freunden damit aufgezogen wurde, wie er im – Überraschung – Vorwort seiner Autobiografie „Als ich ein kleiner Junge war“ erzählt.

„Diese direkte Leseransprache und die Erklärungen im Vorwort, das war typisch für Kästner. Und in der Form und Direktheit hat das in seiner Zeit auch niemand anders so gemacht“, sagt Sven Hanuschek, Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und führender Kästner-Experte in Deutschland. Am Montag erscheint seine Kästner-Biografie „Keiner blickt dir hinter das Gesicht: Das Leben Erich Kästners“. Denn es gibt was zu feiern in diesem Jahr, dreimal sogar. 125 Jahre alt wäre Kästner am 23. Februar geworden, sein Kinderbuch „Emil und die Detektive“ feiert im Herbst 95. Geburtstag und im Sommer, am 29. Juli, jährt sich sein Todestag zum 50. Mal. „Es ist unfassbar, wie breit Kästner heute noch gelesen wird, was er für eine Öffentlichkeit hat. Davon können andere Autoren nur träumen“, sagt Sven Hanuschek. Nur: Wie hat Kästner das geschafft? Was hat seine Kinderbücher so besonders, so anders gemacht? Und was können wir heute, 100 Jahre später, von ihm, dem Nazi-Gegner und Daheimgebliebenen, lernen, in einer Zeit, in der faschistische Tendenzen aller Orten wieder um sich greifen?

„Vor Kästner war die Kinderliteratur sehr beschränkt und alles hatte einen erziehenden Charakter“, sagt Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses in Köln und bekennender Kästner-Fan. „Neben Märchen gab es für Jungen Abenteuergeschichten, in denen die Protagonisten sich selbst fanden. Die Bücher für Mädchen sollten die Leserinnen vor allem darauf vorbereiten, später selbst eine Familie zu gründen.“ Damals habe es überhaupt nur wenige Bücher für Kinder und Jugendliche gegeben und die hätten eine viel geringere Bedeutung gehabt als heute. Doch dann schrieb Erich Kästner „Emil und die Detektive“. Einen Abenteuerroman, der nicht – wie sonst üblich – auf dem Land spielte, sondern in der Großstadt Berlin. Eine Detektivgeschichte, nicht für Erwachsene, sondern für Kinder.


In „Emil und die Detektive“ wird der Realschüler Emil Tischbein von seiner alleinerziehenden Mutter zur Familie nach Berlin geschickt. Emil soll der Großmutter mühsam zusammengesparte 140 Mark bringen, doch dann wird der Junge im Zug von dem fiesen Herrn Grundeis bestohlen. Emil gelingt es, Grundeis durch halb Berlin zu verfolgen und zu beschatten. Bald bekommt er dabei Hilfe von einer Jungengruppe rund um Gustav, auch Emils freche Cousine Pony Hütchen gesellt sich dazu. Den Kindern gelingt es schließlich, das Geld zurückzuholen – ganz ohne die Hilfe von Erwachsenen.


„Kästner war immer sehr bemüht, seine jungen Protagonisten bis zum Ende selbstständig agieren zu lassen. Das unterscheidet ihn stark von dem, was es sonst zu der Zeit gab“, sagt Ines Dettmann. „Emil und die Detektive“ sei eine „kindliche Ermächtigungsgeschichte“, ergänzt Sven Hanuschek. „Kästner hat Kinder als ganze Menschen wahrgenommen.“ Und mehr noch: Als junge Menschen, die die Gesellschaft zum Positiven verändern können, wo es den Erwachsenen misslungen ist. „Seine Kinderfiguren sollten Werte vermitteln. Sie sollten gute Menschen sein, die das Richtige tun, die in Krisensituationen kluge Entscheidungen treffen und dann gewinnen“, erklärt der Literaturwissenschaftler.

All das gelang Kästner ohne ständig den erhobenen Zeigefinger zu recken. Im Gegenteil: Dass er für Kinder schrieb, merkt man schon an der Sprache. Phrasen, die uns heute zum Schmunzeln bringen, wie „Quatsch dir keine Fransen“ oder „Na Mensch, fall nur nicht gleich vom Stühlchen“ waren damals die aktuelle Jugendsprache. „Kästners Bücher hatten eine tolle Dramaturgie und richtig Schwung in der Handlung“, sagt Hanuschek. All das kam bei den jungen Leserinnen und Lesern gut an. „Emil und die Detektive“ wurde ein Welterfolg.

Bereits 1931 gab es die erste Verfilmung. Und nicht mal die Nazis trauten sich in den ersten Jahren, Emil zu verbieten – obwohl sie viele andere Kästner-Werke 1933 längst verbrannt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Emil so sehr zum deutschen Literaturkanon, dass Astrid Lindgrens Buch „Emil i Lönneberga“, erschienen in den 1960er Jahren, hierzulande in „Michel“ umbenannt wurde, denn wir hatten ja schon „unseren“ Emil. Etwa 180 Auflagen gibt es laut „Atrium“-Verlag von „Emil und die Detektive“, genaue Verkaufszahlen kennt man nicht, weil die Lizenzen für das Buch aufgrund der Wirren des Zweiten Weltkriegs an verschiedene Verlage verkauft wurden. Und noch immer erscheinen neue Auflagen. Das muss man sich mal vorstellen – nach 95 Jahren!

Nach Emil reihte sich, fast im Jahresrhythmus, eine Kinderbuch-Veröffentlichung an die nächste: 1931 „Pünktchen und Anton“, 1932 „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“, 1933 „Das fliegende Klassenzimmer“. 1931 veröffentlichte Kästner auch „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“, seinen Roman für Erwachsene. „Fabian und auch Kästners Gedichte waren sehr pessimistisch“, sagt Sven Hanuschek. Kästner verzweifelte an den politischen Entscheidungen seiner Zeit.

Noch traumatisiert von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der brutalen Soldaten-Ausbildung, die ihm eine Herzschwäche einbrachte, sprach er sich in seinen Gedichten, Zeitungsartikeln und auch in „Fabian“ für Frieden und gegen das Erstarken des Faschismus aus, erlebte dann aber Hitlers Machtergreifung, musste 1933 persönlich mit ansehen, wie seine Bücher verbrannt wurden und bekam ein Schreibverbot. Er hielt sich über Wasser mit „Untergrundstrategien“, wie Hanuschek es nennt. Schrieb unter Pseudonym Unterhaltungsliteratur und Drehbücher für Filme, redigierte die Werke von Freundinnen und Freunden.

Bis heute wird darüber spekuliert, warum er Deutschland – wie so viele andere Kulturschaffende – nicht verlassen hat. Die einen sagen, dass er die geliebte Mutter nicht zurücklassen wollte. Die anderen, er habe sein Land nicht im Stich, nicht den Nazis überlassen wollen. Sven Hanuschek glaubt, dass Kästner die Situation einfach falsch eingeschätzt habe. „Während der Weimarer Republik hatten die Kanzler oft gewechselt – ich vermute, dass Kästner sich nicht vorstellen konnte, dass Hitler so lange an der Macht bleiben würde.“  Und natürlich gab es im Nachgang diejenigen, die behaupten, Kästner hätte sich den Nationalsozialisten zu sehr angedient, sei zu passiv gewesen. Andere sagen, der Schriftsteller habe im Rahmen seiner Möglichkeiten Widerstand geleistet.

Kästner selbst argumentierte oft, dass er blieb, um die Geschehnisse zu dokumentieren und später einen Roman zu schreiben. Tatsächlich schrieb Kästner ein Kriegstagebuch, das jedoch 1945, nach den Schilderungen eines KZ-Flüchtlings, abrupt abbrach. „Erst bei diesem Gespräch hat Kästner wohl das ganze Ausmaß des NS-Terrors begriffen und auch, dass kein Text von ihm dem je gerecht werden könnte“, mutmaßt Hanuschek. Stattdessen wurde Kästner 1945 in der amerikanischen Besatzungszone Feuilletonleiter der „Neuen Zeitung“ in München. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihm eines jedoch klar: 1933 hätte schon viel früher bekämpft werden müssen. In der Folge verlagerte der Autor sein politisches Engagement deswegen vom Blatt auf die Straße und führte zahlreiche Friedensdemonstrationen an. Er veröffentlichte Gedichte und blieb der jungen Leserschaft treu. 1945 wurde er für einige Jahre Herausgeber der Jugendzeitschrift „Pinguin“.


Im Ferienheim treffen sich Luise und Lotte zufällig – und stellen fest, dass sie Zwillinge sind. Die Mädchen wurden bei der Scheidung der Eltern getrennt, eine lebt beim Vater in Wien, die andere bei der Mutter in München. Luise und Lotte tauschen die Rollen und schaffen es schließlich, ihre Eltern wieder zusammenzubringen.


1949 veröffentlichte er „Das doppelte Lottchen“ und setzte sich als erster Autor mit dem Thema Scheidung in einem Kinderbuch auseinander. Das brachte ihm viel Kritik ein, doch Kästner war der Meinung, es sei doch weniger schockierend für Kinder über eine Scheidung zu lesen als selbst eine mitzuerleben. „Solche Themen waren damals gar nicht üblich in der Kinder- und Jugendliteratur“, sagt Ines Dettmann.

Dass Kinder- und Jugendbuchautoren heute über aktuelle Themen und gesellschaftliche Entwicklungen schreiben, oftmals sogar früher als ihre Kollegen und Kolleginnen in der Erwachsenenliteratur, haben sie wohl unter anderem Erich Kästner zu verdanken. Und auch, dass das Genre generell mehr Wertschätzung erfährt. „Erich Kästner war der erste, der die Gattung so ernst genommen hat“, sagt Sven Hanuschek.

Kästner hat Autorinnen und Autoren auf der ganzen Welt beeinflusst, sein Erbe wirkt nach. Und auch, wenn Kinder heutzutage vielleicht nicht von selbst zu einem Kästner-Buch greifen würden, so ist den meisten sein Name doch ein Begriff, glaubt Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses und Mutter von vier Kindern. „Eltern, die mit Kästner groß geworden sind, erinnern sich gerne an seine Bücher und lesen daraus vor. Meine Kinder mögen vor allem die Adaptionen: die tollen Comics von Isabel Kreitz, die Hörspiele und aktuellen Kinofilme.“ Denn auch wenn das Setting altertümlich wirkt – ihren Zauber haben die Geschichten nicht verloren. Und manche auch nicht ihre Aktualität. So wie das 1949 erschienene Kinderbuch „Die Konferenz der Tiere“.


Als eine Konferenz der Menschen ergebnislos aufgelöst wird, beschließen drei Tiere, die Sache mit dem Frieden selbst in die Hand zu nehmen: Sie laden Delegierte verschiedener Tierrassen und Menschenkinder zu einer eigenen Konferenz ein. Mit verschiedenen, teils sehr harten Methoden gelingt es ihnen schließlich, dass alle Staatsoberhäupter der Welt einen Vertrag unterzeichnen: Die Grenzen werden aufgehoben, es wird komplett abgerüstet und alle Menschen streben nach einer friedvollen Welt für die Kinder.


„Kästners Kinderbücher sind Utopien, in denen Dinge gelingen, die in Wirklichkeit nicht klappen“, sagt Sven Hanuschek. Das Vertrauen in das Urteilsvermögen der Erwachsenen hatte Kästner nach dem Zweiten Weltkrieg wohl vollends verloren. Nicht jedoch den Glauben an die Macht der Kinder.

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