Pippi, Michel, RonjaWarum wir Astrid Lindgrens Kinderbücher immer noch so lieben

Lesezeit 10 Minuten
Astrid Lindgren mit Michel-Darstellern

Astrid Lindgren 1972 mit den Michel-Kinderdarstellern Lena Wisborg (l) und Jan Ohlsson. 

  • Vor 20 Jahren, am 28. Januar 2002, starb Astrid Lindgren. Ihre Kinderbücher jedoch sind so beliebt wie eh und je.
  • Was ein Kinderbuch haben muss, um ein Klassiker zu werden, wissen drei Literatur-Expertinnen – und sie verraten auch, welche aktuellen Bücher das in Zukunft schaffen können.

Köln – Rote, geflochtene, abstehende Zöpfe. Ein bunt geringelter Socken. Extrem große, schwarze Schuhe. Und viele, viele Sommersprossen. Na, hatten Sie bei der Aufzählung dieser Worte auch automatisch Pippi Langstrumpf im Kopf? Dann geht es Ihnen wie vermutlich den meisten Menschen in Deutschland – und in vielen anderen Ländern der Welt. Denn Astrid Lindgrens berühmtestes Buch wurde in 77 Sprachen übersetzt. Doch nicht nur mit Pippi hatte die schwedische Autorin Erfolg. Auch „Wir Kinder aus Bullerbü“, „Ronja Räubertochter“, „Lotta“, „Die Brüder Löwenherz“ und viele andere werden heute noch gerne gelesen (oder vorgelesen).

Da kann man glatt vergessen, dass einige der Bücher schon älter als 70 Jahre sind und dass die Autorin längst nicht mehr unter uns weilt. Vor 20 Jahren, am 28. Januar 2002, verstarb sie in Stockholm. Trotzdem fügen sich ihre Bücher in den Regalen der Kinder mühelos zwischen den aktuell bei Kindern beliebten Titeln wie „Die Schule der magischen Tiere“, „Gregs Tagebuch“ oder „Harry Potter“ ein.

Wie hat Lindgren es geschafft, so zeitlose Bücher zu verfassen? Was fasziniert junge Leserinnen und Leser an der bäuerlichen Welt in Bullerbü, ohne Handy, Fernsehen und Autos? Was muss ein Kinderbuch also haben, um ein Klassiker zu werden? Und welche aktuellen Bücher könnten Anwärter auf diesen Titel sein? Darüber haben wir mit drei Expertinnen gesprochen.

Lindgren_Astrid_©Roine Karlsson_Pressefoto

Die berühmte Autorin Astrid Lindgren

„Astrid Lindgren spricht in ihren Werken zeitlose Themen wie Familie, Freundschaft und Mut an, spart aber auch Verlust, Tod und Trauer nicht aus. All das verbindet sie mit großartigen Figuren, die jedes Kind gerne zum Freund hätte“, sagt Kerstin Behnken. Die 45-Jährige ist Lektorin beim Oetinger-Verlag in Hamburg und seit gut 15 Jahren für das Lindgren-Werk zuständig. Ihre Faszination für die Autorin begann aber bereits mit vier Jahren – da bekam sie „Bullerbü“ geschenkt. „Astrid Lindgren wird nie langweilig. Auch beim 30. Mal Lesen berühren und begeistern die Texte mich“, sagt Behnken, die das umfassende Werk von 34 Romanen und 41 Bilderbüchern immer wieder im Hinblick auf Neuauflagen prüft. Die Autorin spart weder ein Thema noch ein Genre oder eine Altersklasse aus. Kurz gesagt: In Lindgrens Werk ist für jeden was dabei. 

Lindgren hatte eine sehr glückliche Kindheit

Seien es die Abenteuer, die Lisa, Lasse, Bosse und die anderen Kinder aus Bullerbü in ihrer heilen Bauernhof-Welt erleben. Sei es das Gerechtigkeitsgefühl der unangepassten Madita. Die verrückten Streiche von Michel. Die Naturverbundenheit von Ronja. Das Waisendasein von Mio. Oder der technikaffine, verschrobene Karlsson. Dass viele der Bücher in einer Welt ohne Fernsehen, Handys oder Computer spielen, die Menschen sich mit Pferdekutschen und -schlitten statt in Autos fortbewegen, Knechte und Mägde im Haus arbeiten, scheint die Kinder dabei nicht zu stören. „Auch als Lindgren den ersten Bullerbü-Band 1947 veröffentlichte, spielte die Geschichte schon in der Vergangenheit“, sagt Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses in Köln und Astrid-Lindgren-Fan. „Die jungen Leserinnen und Leser akzeptieren diese vergangene Welt ähnlich wie im Märchen. Da fragt ja auch niemand, warum der Prinz Dornröschen nicht mit Hilfe einer Kettensäge rettet“, sagt Dettmann und lacht. Werke wie Bullerbü, Michel oder Lotta sind von Lindgrens eigener, sehr glücklicher Kindheit in dem kleinen Dorf Vimmerby in Südschweden inspiriert. „Lindgren hat oft gesagt, dass sie dieses Pferdezeitalter, in dem alles viel langsamer war, vermisst“, sagt Dettmann.

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Mit 18 Jahren dann der Schock: Die junge Journalistin Astrid wird von ihrem Chef schwanger. Sie verlässt Vimmerby, bringt ihren Sohn Lasse heimlich in Dänemark zur Welt. Dort lebt er die ersten drei Jahre bei einer Pflegefamilie. Dettmann: „Diese innere Zerrissenheit hat Lindgren vor allem in ihren melancholischen und fantastischen Werken verarbeitet – und sich damit vermutlich auch ein bisschen selbst geheilt.“ Anfang der 1930er Jahre geht es bergauf: Lindgren holt Lasse nach Stockholm, heiratet Sture Lindgren, bringt 1934 Tochter Karin zur Welt und arbeitet als Sekretärin. 1945 dann der Durchbruch mit Pippi Langstrumpf. Später, als Lindgren eine erfolgreiche und vielfach ausgezeichnete Autorin ist, nutzt sie ihre Popularität und setzt sich für Tierschutz und gegen Atomkraft und Rassismus ein.

Astrid Lindgren ist genauso wenig angepasst wie ihre Figuren

Im hohen Alter noch klettert sie auf Bäume. Zeitlebens ist Astrid Lindgren genauso wenig angepasst wie ihre Figuren. So greift sie das Thema Tod in der liebevollen Fantasiegeschichte um die beiden Brüder Löwenherz auf – bis zum Erscheinen des Romans 1973 ein absolutes Tabu in der Kinder- und Jugendliteratur. Doch damit nicht genug: „Mit den drei Kalle-Blomquist-Romanen hat Lindgren das Genre des Kriminalromans für Kinder im deutschen Raum gängig gemacht“, erklärt Inger Lison, Literaturwissenschaftlerin und -didaktikerin an der TU Braunschweig und Verwalterin der „Astrid Lindgren Datenbank“ in Deutschland.

Pippi Langstrumpf stemmt das Pferd ©The Astrid Lindgren Company_ Ingrid Vang Nym

Eine typische Szene: Pippi hebt das Pferd in die Luft.

Am kontroversesten ist aber sicherlich Pippi: Ein kleines Kind, das ohne Eltern, dafür aber mit einem Pferd und einem Affen in einem großen Haus lebt, eine Kiste voll Gold besitzt, falsch  herum im Bett schläft, Süßigkeiten ohne Ende konsumiert, problemlos ein Pferd hochheben kann, sich niemals etwas von Erwachsenen vorschreiben lässt – und das auch noch als Mädchen. „Solche wilden und abenteuerlichen Charakterzeichnungen waren bisher Jungen vorbehalten“, erklärt Lison und nennt Tom Sawyer oder Huckleberry Finn als Beispiele. Kein Wunder, dass dieses Buch 1945 für Furore sorgte! Und zwar sowohl im recht fortschrittlichen Schweden, das bereits mit antiautoritären und reformpädagogischen Ideen experimentierte, viel mehr aber noch in Nachkriegsdeutschland. „Mit „Pippi Langstrumpf“ wurde das vorherrschende Kindheitsbild buchstäblich auf den Kopf gestellt“, sagt Inger Lison.

Entsprechend schwer war es schon in Schweden, vor allem aber hier in Deutschland einen Verlag zu finden. „Es war damals ein Wagnis für Friedrich Oetinger ein solches Buch herauszugeben“, sagt Lison. Studien hätten gezeigt, dass viele Leserinnen und Leser sich eher mit Tommy und Annika als mit der verrückten Pippi identifizieren könnten, etwas, das auch Lindgrens Tochter Karin Nyman schon häufiger erzählt hat. „Mit Hilfe von Pippi als Projektionsfigur können Kinder auf fiktionaler Ebene alles das ausleben, was ihnen in der Realität nicht möglich ist beziehungsweise seitens Erziehungsberechtigter verboten wird“, sagt Lison.

Warum wird ein Kinderbuch zum Klassiker?

Die Geschichte mit der schwierigen Verlagssuche erinnert zugegebenermaßen an Joanne K. Rowling und ihren Helden Harry Potter. Und ja, wir befinden uns nun schon mittendrin in der Suche nach den Voraussetzungen dafür, warum ein Buch zum Klassiker wird. Die Literaturwissenschaft beschreibt dafür verschiedene Qualitätskriterien und eines lautet: Innovation. „Neben all den progressiven Charaktermerkmalen hat Lindgren in den „Pippi“-Büchern die fantastische Erzählung durch genrefremde Elemente erweitert und erneuert“, erklärt Lison. Auch in ihren anderen Werken mischt sie Merkmale verschiedener Gattungen, in „Ronja Räubertochter“ etwa Elemente der skandinavischen Volksmärchen mit dem Räuberroman und einer an „Romeo und Julia“ erinnernden Liebes- bzw. Freundschaftsbeziehung gegen alle Widerstände. „Lindgren hat sich oft nicht nach dem gerichtet, was gerade angesagt war“, führt Lison weiter aus. „Als sie 1973 die fantastische Erzählung „Die Brüder Löwenherz“ schrieb, waren gerade realistische Bücher im Trend.“

Ein weiterer Punkt auf der Klassiker-Qualitäts-Liste: Einfachheit versus Komplexität. Lindgren zitierte gerne folgenden Satz von Arthur Schopenhauer: „Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.“ Und danach, da sind sich die drei Expertinnen einig, habe sie sich zeitlebens gerichtet. Lison: „Sie schreibt in einer leicht verständlichen, melodischen und kinderaffinen Erzählweise und ihre Themen sind hochkomplex.“ Lindgren habe sich mit ihrer Sprache nie angebiedert, findet Ines Dettmann vom Jungen Literaturhaus. Im Gegensatz zu manchen anderen Kinderbuchautorinnen und -autoren, die sich einer Jugendsprache bedienen, die nach zehn Jahren altbacken wirkt. „Lindgren spricht die Kinder sehr direkt an – und zwar auf Augenhöhe. Sie stellt ihre jungen Leserinnen und Leser in den Mittelpunkt und verfolgt nicht, wie damals üblich, den Ansatz, sie zu erziehen“, sagt Ines Dettmann.

Lindgren wollte eine neue Übersetzung der Brüder Löwenherz

Lektorin Kerstin Behnken erzählt, wie penibel Lindgren geschrieben hat. „Sie hat nie ein Wort zu viel benutzt.“ Und wenn ihr eine Übersetzung nicht zusagte, hat sie das auch deutlich gemacht. So legte sie, die in der Schule Deutsch gelernt hatte, zunächst ein Veto gegen die deutsche Übersetzung der „Brüder Löwenherz“ ein: „Lindgren fand, dass in der Übersetzung zu viele schwierige Worte benutzt wurden und bat um eine Überarbeitung“, sagt Behnken. Unnötig zu sagen, dass auch eine kunstvolle Sprache ein weiteres Merkmal für den Klassiker-Status ist. Ende der 1980er Jahre wurde das Gesamtwerk sprachlich behutsam modernisiert, seit 2009 ist das umstrittene N-Wort in den aktuellen Auflagen nicht mehr zu finden.

Was ein Klassiker aber vor allem braucht, ist die Leserschaft. Kinder und Jugendliche, die ein Buch auch nach zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren noch lesen – und zwar gerne. „Bei Astrid Lindgren wissen wir aus den vielen Briefen, die Kinder ihr im Laufe der Zeit geschrieben haben, dass sie die Bücher wirklich geliebt haben“, sagt Literaturwissenschaftlerin Inger Lison. Und diese Kinder lesen ihren Kindern und Enkelkindern dann vielleicht später daraus vor. „Wenn der Vorleser das Buch selbst mag, liest er authentischer“, sagt Ines Dettmann. Das wiederum merkten die Kinder, was zu einem besonderen Vorlese-Erlebnis führe und im Rückschluss auch dazu, dass das Kind selbst dieses Werk mehr schätzt.

Ein Buch fürs Radio und Fernsehen

Was auch hilft, um nicht in Vergessenheit zu geraten: Intermedialität. Aus einem Buch wird ein Feature fürs Radio, ein Hörspiel oder ein Film – auch darin war Lindgren Vorreiterin. Und natürlich: Eine Marketing-Maschine, die das Ganze am Laufen hält und immer wieder neue Kaufanreize schafft. So arbeitet Kerstin Behnken mit den Erben Astrid Lindgrens beständig daran, die Bücher auch einer neuen Generation zugänglich zu machen: Die alten Texte werden mit modernen, farbigen Illustrationen versehen und anlässlich von Jubiläen neu herausgegeben.

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Szene aus der Neuauflage von Lindgrens "Mio, mein Mio"

Zum 20. Todestag etwa hat der Oetinger-Verlag sich „Mio, mein Mio“ vorgenommen, ein „unterschätztes Werk“ wie Lektorin Behnken findet. Der schwedische Künstler Johan Egerkrans hat die Geschichte des traurigen Waisenkindes Bo, das auf magische Weise mit seinem Vater in einer Parallelwelt wiedervereint wird, mit stimmigen, melancholischen und berührenden Illustrationen versehen.

Damit ein Buch es wirklich in den Olymp der Klassiker schafft, braucht es letztlich auch Glück, den richtigen Ort und die richtige Zeit und vielleicht noch ein kleines bisschen mehr. Lindgren habe ein „lebendiges Kind“ in sich gehabt, sagt Lektorin Kerstin Behnken. Und vielleicht kann nur so jemand die Kinder über alle Zeiten hinweg erreichen. Ob ein Buch ein Klassiker wird, kann man letztlich aber erst in der Rückschau bewerten, dann, wenn es mindestens eine Generation überdauert hat.

„Die Schule der magischen Tiere“ ist aktuell beliebt bei Kindern

Zurzeit steht vor allem die Buchreihe „Die Schule der magischen Tiere“ hoch im Kurs bei den Kindern. Bei den 25 erfolgreichsten Kinderbüchern im Jahr 2021, so die gerade veröffentlichten Zahlen von Media Control, belegt die Reihe gleich zehn Plätze – dabei sind bisher erst zwölf Bände erschienen. Ines Dettmann sieht gewisse Parallelen zwischen den magischen Tieren und den Lindgren-Werken, etwa die Langsamkeit des Erzählens. Und ähnlich wie die Bullerbü-Welt Lindgrens vermittle Autorin Margit Auer ihrer jungen Leserschaft mit den magischen Tieren Sicherheit. „Auch, wenn schon die zweite Grundschul-Generation diese Bücher sehr schätzt, kann niemand absehen, ob sie in 15 Jahren immer noch beliebt sind – oder ob in der Zwischenzeit etwas noch Innovativeres veröffentlicht wird“, so Dettmann vom Jungen Literaturhaus.

Eindeutiges Anzeichen dafür, ob ein Werk den Klassiker-Status erreicht hat, ist für sie der gesellschaftliche und kulturelle Einfluss dieses Werkes. Also der Moment, wenn man Schlüsselszenen zitiert – und jeder sie versteht. Der Moment, wenn aus dem bunten Haus am Straßenrand die Villa Kunsterbunt wird; wenn die Ferien auf dem Bauernhof in eine Reise nach Bullerbü mutieren; wenn man bei einem Spaziergang durch einen verwunschenen Wald erwartet, gleich einen Schwarm Wilddruden vorbeiziehen zu sehen. Ob das Karnevalskostüm mit der roten Zöpfchen-Perücke, dem geringelten Strumpf und den viel zu großen, schwarzen Schuhen auch in 50 Jahren noch eindeutig als Pippi Langstrumpf identifiziert werden wird, bleibt abzuwarten. Aber zu hoffen.

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