Jugendforscher nach Krawallen„Wir müssen Jugendliche wieder ernst nehmen“

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In Stuttgart und Frankfurt ist es vor kurzem zu Krawallen und Gewalt gegen die Polizei gekommen. Auch Jugendliche waren beteiligt. (Symbolbild)

  • In Frankfurt und Stuttgart ist es vor kurzem zu schweren Krawallen gekommen, an denen auch viele Jugendliche beteiligt waren.
  • Wie kommt es soweit und was treibt die Jugendlichen an? Wie viel haben die Corona-Einschränkungen damit zu tun?
  • Jugendforscher Bernd Holthusen erklärt im Interview, wie Gewalt eskaliert und was jetzt getan werden muss, damit sich solche Szenen nicht wiederholen.

In Frankfurt und Stuttgart sind Zusammentreffen in der Stadt eskaliert. Daran beteiligt waren viele Jugendliche. Woran liegt es, dass sie so wütend sind? Haben die Einschränkungen der Corona-Zeit die Gewaltbereitschaft gefördert? Und welche Lösungen kann es geben, damit solche Exzesse sich nicht wiederholen? Bernd Holthusen forscht am Deutschen Jugendinstitut in München unter anderem zu Ursachen und Prävention von Jugendkriminalität und gibt Antworten.

Herr Holthusen, in Frankfurt und Stuttgart sind vor einiger Zeit Zusammentreffen in der Stadt eskaliert. Es waren viele Jugendliche dabei, die Scheiben eingetreten oder Polizisten angegriffen haben. Woher kommt diese Gewaltbereitschaft?

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Bernd Holthusen forscht am Deutschen Jugendinstitut u.a. zu Gewaltprävention.

Bernd Holthusen: Wir müssen uns klar machen, unter welchen Bedingungen die Jugendlichen während der Pandemie leben. Durch die Bekämpfungs-Maßnahmen ist jugendliches Leben stark eingeschränkt. Das haben wir lange Zeit nicht gesehen, weil wir die Jugendlichen nur in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler betrachtet haben. Junge Leute wollen sich mit anderen treffen und austauschen. Dafür brauchen sie Räume. Viele ihrer geschützten Räume wie Jugendzentren, Bars, Kneipen und Clubs sind währen des Lockdowns und zum Teil jetzt noch weg gefallen. Es gibt keine Konzerte und Festivals, wo man sich mit Gleichgesinnten zusammentun kann und gemeinsame Erlebnisse hat. Gleichzeitig haben die jungen Menschen mehr freie Zeit, weil Unterricht ausgefallen ist, Auslandsaufenthalte abgesagt wurden oder Ausbildungen und Praktika nicht durchgeführt werden. Zuhause ist die ganze Familie in der Wohnung, wer nicht so viel Platz hat, geht raus. Wir haben also wesentlich mehr junge Menschen im öffentlichen Raum.

Wo liegt das Problem daran?

Der öffentliche Raum ist stärker kontrolliert als andere Freiräume, die Jugendliche zu ihrer Entwicklung brauchen. Außerdem mischen sich im öffentlichen Raum ganz unterschiedliche Jugendgruppen miteinander, die sonst unter Umständen gar nicht zusammentreffen würden. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten unter den Jugendlichen selbst und mit denen, die die öffentlichen Räume kontrollieren. Wir haben also zugleich eine Verdichtung und ein potentiell höheres Konfliktpotential. Außerdem wird viel Alkohol getrunken. Das ist auch ein Faktor, der Eskalationen wahrscheinlicher macht.

Aber Eskalationen in diesem Ausmaß sind neu. Wie groß ist die Rolle der Corona-Einschränkungen in diesem Zusammenhang?

Man muss natürlich sehen, dass sich bei vielen Jugendlichen in dieser Pandemie-Zeit einiges angestaut hat. Die Jugendliche haben sich sehr stark eingeschränkt gefühlt. Ein Großteil der Jugendlichen hat sich trotzdem sehr verantwortungsbewusst und vernünftig verhalten und auch vieles in Kauf genommen. Einige Jugendliche wurden im öffentlichen Raum sehr stark kontrolliert, haben sich diskriminiert und auch ohnmächtig gefühlt. Wenn man dann in eine Situation kommt, in der man mit vielen anderen zusammen ist, fühlt man sich plötzlich stark und mächtig: Weil man in der Gruppe ist, weil es dunkel ist, weil man vermummt ist. Unter diesen Bedingungen steigt das Risiko für Eskalationen.

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Was ist der Auslöser für den Start einer Eskalation?

Das kann sehr unterschiedlich sein. In Stuttgart war es die Kontrolle eines jungen Menschen auf Betäubungsmittel, wo sich die anderen Jugendlichen solidarisiert haben. In Frankfurt war es eine Schlägerei unter Jugendlichen, in die die Polizei eingeschritten ist, um einen verletzten Jugendlichen zu schützen. In dem Moment ist das eingetreten, was wir auch aus der Hooligan-Szene kennen: Wenn die Polizei einschreitet, schließen sich plötzlich vormals verfeindete Gruppen zu einem „Wir“ zusammen und die Polizei wird zum Fremdbild. Ob es tatsächlich eskaliert, steht immer auf der Kippe. Wenn zum Beispiel eine Person, die für die Gruppe wichtig ist, sagt: „Lasst den Unsinn, stopp!“, dann haben wir keine Eskalation. Wenn aber jemand anfängt und von anderen noch unterstützt und angefeuert wird, kann die Situation schnell kippen. 

Vor diesem Hintergrund: Wie könnte man in Zukunft solche Situationen vermeiden?

Wir müssen Alternativen schaffen, um gar nicht erst diese Verdichtung im öffentlichen Raum entstehen zu lassen.

Jugendliche brauchen also wieder Orte, zu denen sie gehen können und an denen sie sich innerhalb ihrer Gruppen treffen können? 

Unbedingt. Diese Frage haben wir vernachlässigt, und hier kommen die Kommunen ins Spiel. Kinder- und Jugendhilfe und Jugendzentrum sollten gemeinsam mit den Jugendlichen nach Lösungen suchen. Die Jugendlichen müssen gefragt werden, was sie brauchen und sich wünschen. Das kann man manchmal sehr wenig sein, zum Beispiel ein Bauwagen, in dem sie sich treffen können. Man muss mit ihnen ernsthaft darüber sprechen, wie man das unter den Bedingungen des Gesundheitsschutzes realisieren kann. So nehmen wir Jugendliche ernst. 

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