Diät-Hype um Diabetes-Medikament„Das Mittel wird für die Kranken knapp – eine Katastrophe“

Lesezeit 6 Minuten
Ein Semaglutid-Pen liegt auf einem ansonsten leeren Teller.

Die Nachfrage nach den Mitteln mit dem Wirkstoff Semaglutid ist mittlerweile so hoch, dass es bereits Lieferschwierigkeiten gibt.

Eine Spritze für Diabetiker wird zum Abnehmen gefeiert. Was dahinter steckt und warum dieser Trend gefährlich ist. 

Abnehmen, ohne zu hungern, einfach per Spritze, das klingt verlockend. Das dachte sich wohl auch Elon Musk, der auf Twitter zugab, dank Fasten und „Wegovy“ so gut in Form gekommen zu sein. Wegovy ist ein Medikament zur Gewichtsreduktion, das bei Erwachsenen mit erheblichem Übergewicht angewendet wird. Auch andere Prominente wie Kim Kardashian sollen damit abgenommen haben. Der gleiche Wirkstoff ist im Diabetes-Medikament „Ozempic“ enthalten, das ebenfalls als Diät-Beschleuniger gefeiert wird.

„Vor etwa anderthalb Jahren ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass das Medikament als Schlankheitsmittel zweckentfremdet wird“, erzählt Prof. Martin Reincke, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik IV der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Schwerpunkt Endokrinologie. Das Gleiche hat auch Monica Negrean festgestellt. Sie ist Chefärztin in der Klinik für Innere Medizin II – Diabetologie und Endokrinologie am St. Vinzenz Hospital in Köln. Sie sagt: „Es ist ein riesiger Hype, mich fragt momentan jeder danach. Fast so wie mit dem Vitamin D, das auch alle nehmen wollen.“

Hohe Nachfrage führt zu Lieferengpässen

Die Nachfrage nach den Mitteln ist mittlerweile so hoch, dass es bereits Lieferschwierigkeiten gibt. Die dänische Firma Novo Nordisk, die sowohl Wegovy als auch Ozempic herstellt, hat deshalb in den USA den Zugang zu Wegovy beschränkt. In der EU ist Wegovy zwar zugelassen, aber in Deutschland noch nicht erhältlich. Bei Ozempic sind auch in Deutschland bereits flächendeckend Lieferengpässe aufgetreten. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) informiert gemeinsam mit dem Hersteller Novo Nordisk in einem Schreiben darüber und bittet Ärztinnen und Ärzte, das Medikament nur an Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 zu verschreiben. „Jedes andere Anwendungsgebiet, inklusive Gewichtsregulierung, stellt eine Off-Label-Anwendung dar und kann aktuell die Verfügbarkeit von Ozempic für Menschen mit Typ-2-Diabetes gefährden“, heißt es weiter. 

Eine Schachtel des Medikaments Ozempic liegt auf einem Tisch.

Um das Diabetes-Medikament Ozempic ist ein riesiger Hype entstanden – mit gravierenden Folgen für Diabetiker.

Ärztinnen und Ärzte seien nun angehalten, auf jedes Rezept auch die Diagnose Diabetes zu notieren. Fehlt diese, sollen Apotheker die Spritzen nicht mehr herausgeben. Auch mit dem Arztausweis sei das Medikament in der Apotheke nicht mehr zu beziehen, ergänzt Monica Negrean. „Dieser Engpass ist eine Katastrophe. Durch die riesige Nachfrage außerhalb des Diabetes-Bereichs ist dieses sinnvolle Medikament knapp geworden. Diejenigen, die es wirklich benötigen, können es nicht erhalten“, klagt Martin Reincke. 

Wie funktionieren die Medikamente genau, was sind die Nebenwirkungen, was die größten Probleme? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Wie funktionieren die Medikamente?

Grundsätzlich geht es um Medikamente, die den Wirkstoff Semaglutid enthalten und als GLP-1-Agonisten bezeichnet werden. Semaglutid ist eine Variante eines natürlichen Hormons, das für die Verdauung zuständig ist. Es wirkt zum einen auf die Bauchspeicheldrüse und verbessert dort die Insulinbildung. Dadurch wird der Blutzucker schneller abgebaut. Gleichzeitig meldet es dem Zentralen Nervensystem, dass Nahrung vorhanden ist. Man hat also weniger Hunger. 

Eine im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie hat nachgewiesen, dass Semaglutid nachweislich beim Abnehmen hilft. Demnach verloren die Patienten, die begleitend zu Lebensstil-Änderungen auch eine Dosis Semaglutid pro Woche erhalten hatten, im Schnitt nach 68 Wochen fast 15 Prozent Gewicht. Eine Vergleichsgruppe mit einem Scheinmedikament nahm dagegen im gleichen Zeitraum nur gut zwei Prozent ab. 

Was ist der Unterschied zwischen Ozempic und Wegovy?

Ozempic ist seit 2018 in Europa zugelassen und wird bei sogenannter Typ-2-Diabetes eingesetzt, also bei Menschen, bei denen das Insulin im Körper nicht mehr so gut wirkt. „In der Diabetes-Therapie ist es ein eindeutiger Durchbruch und sehr beliebt, weil es zugleich den Blutzuckerspiegel und das Körpergewicht senkt. Das Medikament macht ausgeprägtes Übergewicht mit Diabetes erstmals behandelbar“, erklärt Martin Reincke. Insulin dagegen normalisiere zwar den Blutzuckerwert, sorge aber bei Typ-2-Diabetes gleichzeitig für eine unerwünschte Gewichtszunahme, die Diabetes auf Dauer schlechter behandelbar mache. 

Wegovy ist höher dosiert und in der Hauptindikation für stark übergewichtige Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) ab 30 gedacht. Liegt bereits eine gewichtsbedingte Begleiterkrankung – etwa Typ-2-Diabetes – vor, darf es ab einem BMI von 27 verschrieben werden, sofern andere Maßnahmen nicht geholfen haben. Die Spritze kann für Betroffene eine Alternative zur Magenverkleinerung sein. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) sieht den Semaglutid-Einsatz als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität vor.

Wie werden die Mittel angewendet?

Die Medikamente werden mit einem Pen einmal pro Woche in das Fettgewebe gespritzt. „Die Nadeln sind dünn und kaum zu spüren“, sagt Martin Reincke. Sobald die Spritze wieder abgesetzt wird, tritt der normale Stoffwechsel wieder ein.

Wie kommt man an die Medikamente?

„Wenn Sie kein Diabetiker sind, bekommen Sie normalerweise kein Rezept. Es sei denn, Sie bekommen Ihren Hausarzt aus irgendeinem Grund überredet und er stellt Ihnen ein Privatrezept aus. Die Kosten tragen Sie dann selbst“, erklärt Martin Reincke. 

Was kosten die Spritzen?

Der Apothekenpreis für die mittlere Diabetes-Dosis Ozempic (0,5 mg / Woche) liegt bei 80 Euro. „In der regulären Adipositasdosis würden dies bei linearer Preisbildung für 2.4 mg/Woche 400 €/Monat sein“, erklärt Martin Reincke. Das höher dosierte Mittel Wegovy zur Gewichtsabnahme wird noch teurer sein, wenn es – voraussichtlich in diesem Jahr – in Deutschland zugelassen wird. Aktuell müssen Übergewichts-Patienten die Medikamente selbst bezahlen. In einigen Fällen bekommen Patienten mit ausgeprägter Adipositas die Spritzen von der Kasse bezahlt.

Was passiert, wenn ich das Mittel als Gesunder einnehme?

Martin Reincke bringt die Antwort auf den Punkt: „Sie nehmen auf jeden Fall ab. Aber Sie verzichten auch auf sehr viel Genuss. Lustvoll essen ist nicht mehr möglich, weil Sie immer ganz schnell satt sind.“ Außerdem gibt es weitere Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und andere Magen-Darm-Beschwerden. Auch Gallensteine können auftreten. „In Experimenten mit Ratten zeigte sich, dass die Mittel auch seltene Formen von Schilddrüsenkrebs begünstigen können. Deshalb würden wir das Medikament mit einer entsprechenden Vorgeschichte nicht verabreichen“, sagt Martin Reincke.    

„Medikamente können keine Dauerlösung sein“

Leichtes Übergewicht mithilfe von Medikamenten reduzieren zu wollen, hält Martin Reincke für eine Fehlentwicklung: „Es mag angenehm sein, aber man macht es sich bewusst leicht. Es ist eine Form von Hedonismus. Vieles ist mit etwas Kontrolle bei den Mahlzeiten und mehr körperlicher Aktivität in Eigenregie machbar.“ Die Verwendung von Ozempic und Wegovy als Lifestyle-Medikament sieht er daher kritisch: „Das Medikament ist noch nicht lange auf dem Markt, es gibt wenig Erfahrung. Es wird in den Medien ohne Ende gehypt, aber es sind auch gravierende Nebenwirkungen denkbar.“ 

Monica Negrean ist ebenfalls kein Fan dieser Entwicklung. „Das Leben ist kompliziert und die Leute suchen nach einer schnellen Lösung. Aber die Mittel wirken erstens nicht bei jedem gleich und zweitens nur so lange, wie Sie sie nehmen. Es kann ja keine Dauerlösung sein, sich das ganze Leben lang etwas zu spritzen. Die richtige Lösung wäre, den Lebensstil zu verändern.“  

Wenig Hoffnung in moralische Verantwortung

Dazu komme der moralische Effekt: Man nimmt das Mittel denjenigen weg, die es wirklich brauchen. „Die Produktion kommt überhaupt nicht hinterher, aber die Versorgung für die Menschen mit Diabetes muss sichergestellt sein“, appelliert Negrean. Reincke setzt allerdings wenig Hoffnung in die moralische Verantwortung der Menschen: „Den Menschen geht es um ihre eigene Ästhetik. Die denken nicht an die Gesamtsituation der Diabetiker.“

Im Gegenteil glaubt er, dass jetzt viele Firmen auf diesen Zug aufspringen werden: „Wegovy ist sicher nicht das letzte Medikament dieser Art, das auf den Markt kommen wird.“ „Die Entwicklung ist in vollem Gange“, bestätigt auch Monica Negrean. In den USA ist mit Mounjaro bereits ein Diabetes-Mittel erhältlich, mit dem bis zu 25 Prozent Gewichtsabnahme möglich sind.  Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch in Deutschland ankommt. 

Rundschau abonnieren