Rundschau-Debatte des TagesWarum lohnt sich Mehrarbeit oft nicht?

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Ein Stift liegt auf einem Wohngeldantrag auf einem Tisch (gestellte Szene).

Die geplante Anhebung der Sozialleistung für Langzeitarbeitslose um zwölf Prozent zum 1. Januar erscheint Union und FDP zu hoch.

Die geplante Anhebung des Bürgergelds sorgt für anhaltenden politischen Streit in Berlin. Wer arbeitet, soll mehr Geld haben als der, der von Transferleistungen lebt – dieser Grundsatz gilt derzeit in manchen Fällen schon nicht mehr, sagt eine neue Studie.

Seit Wochen wird über das Bürgergeld diskutiert. Die geplante Anhebung der Sozialleistung für Langzeitarbeitslose um zwölf Prozent zum 1. Januar erscheint Union und FDP zu hoch. Sie fürchten, dass der Lohnabstand zu Geringverdienern dahinschmilzt. Die Folge: Arbeiten lohnt sich für manche kaum noch. Eine neue Studie des Bundesarbeitsministeriums legt nun allerdings ganz andere Probleme offen.

Was sind die Ergebnisse der neuen Studie?

Laut der „Süddeutschen Zeitung“, der die bisher unveröffentlichte Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums vorliegt, kommen die Forscher des Ifo-Instituts und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zu dem Ergebnis, dass sich mehr Anstrengung für Bezieher von staatlichen Leistungen kaum oder gar nicht lohnt. Der Autor der Studie, der Wirtschaftsprofessor Andreas Peichl, kommt laut SZ zu der Einschätzung, dass der Sozialstaat „absurde Effekte“ hervorbringe. „Das Problem ist die Kombination der vielen staatlichen Hilfen“, sagt er.

Eine Beispielrechnung aus der Studie: Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern, die für 1000 Euro brutto im Monat arbeitet, kommt mit Bürgergeld und weiteren Sozialleistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld auf 2823 Euro im Monat. Arbeitet sie mehr und erhält 1500 Euro brutto, kommt sie auf 2907 Euro – nur 84 Euro mehr.

Zu ähnlichen Ergebnissen war vor wenigen Wochen bereits eine Studie im Auftrag des Bundesfinanzministeriums gekommen. In dem Beitrag des Wissenschaftlichen Beirats wurde zum Beispiel folgende Rechnung aufgestellt: Eine Familie mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 4000 Euro, bei der nur der Vater arbeitet, hat im teuren München Anspruch auf Wohngeld und Kinderzuschlag. Würde die Mutter auch – oder der Vater für 1000 Euro mehr – arbeiten, stünden der Familie am Ende 22 Euro im Monat weniger zur Verfügung. Die Familie hätte sogar nur 77 Euro weniger, wenn sich der Vater entscheiden würde, weniger zu arbeiten und einen Verdienst von 3000 Euro hätte.

Woran liegt es, dass sich Mehrarbeit kaum lohnt?

Sowohl die Studie als auch das Gutachten bemängeln, dass Sozialleistungen nicht sinnvoll aufeinander abgestimmt sind. So kann es passieren, dass jemand, der mehr arbeitet, durch den Wegfall von Wohngeld und Kinderzuschlag am Ende weniger Geld auf dem Konto hat als zuvor. Ein klassischer Fehlanreiz also. Im Gutachten des Finanzministeriums wird herausgearbeitet, dass es sogar regional zu sehr unterschiedlichen Effekten kommen kann. Während es sich zum Beispiel für eine Familie in Leipzig durchaus lohnt, mehr zu arbeiten, ist es für die gleiche Familie in München nicht attraktiv.

Die Unwucht im Sozialsystem ist grundsätzlich nicht neu. Aber die Ampel-Koalition hatte sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, Ursachen und Wirkungen auf den Grund zu gehen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Die Forscher der Studie aus dem Arbeitsministerium fordern als Folge nun aber keine Absenkung des Bürgergelds wie Union und FDP – sie schlagen vor, die Sozialleistungen weniger stark abzusenken, wenn jemand mehr verdient. Wer mehr arbeitet, hätte dann immer mehr Geld als zuvor.

Das Problem, das insbesondere die SPD sieht: Die Zahl der Leistungsempfänger könnte sich deutlich vergrößern, wenn dadurch auch höhere Einkommen noch Anspruch auf staatliche Unterstützung haben. Die Forscher allerdings verweisen auf die Vorteile: Wenn mehr Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, würden sie unterm Strich weniger Hilfe des Sozialstaats in Anspruch nehmen. Der Staat hätte Schätzungen zufolge eine Milliarde Euro mehr Einnahmen, obwohl mehr Menschen Leistungen beziehen.

Wie reagiert die Politik auf die Ergebnisse der Studie?

Bei der SPD ist man zurückhaltend. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher Martin Rosemann sagte unserer Redaktion: „Wir wollen die Anreize in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stärken.“ Es dürfe jetzt aber „keine Schnellschüsse“ geben. Was aus der Studie folgt, sei sehr gründlich zu prüfen.

Die FDP drängt auf Reformen und hält die Vorschläge der Experten grundsätzlich für sinnvoll. „Wir könnten Zehntausende Menschen mehr in Arbeit bringen und bis zu einer Milliarde Euro für den Staat sparen“, meint Arbeitsmarktexperte Pascal Kober. Dass sich die Empfängerzahl staatlicher Leistungen ausweite, könne man in Kauf nehmen.

Der Obmann der Grünen im Arbeits- und Sozialausschuss, Wolfgang Strengmann-Kuhn, sieht Handlungsbedarf, damit Einkommen weniger stark auf Sozialleistungen angerechnet werden. Die Studie zeige einen Weg auf, wie das geschehen könne und durch die positiven Arbeitsmarkteffekt am Ende die Haushalte sogar entlastet werden könnten. Die Erkenntnisse der Studie sollen seiner Ansicht nach einfließen in ein Gesetz, das die Koalition im Frühjahr angehen will. „Wir haben den Einkommensabstand zwischen Bürgergeld und Geringverdienern bereits vergrößert und wollen noch einen Schritt weiter gehen“, sagt er. Man müsse den Erwerbstätigen mehr von ihrem Einkommen lassen. „Da besteht ein echtes Problem“, sagt er.

AfD-Sozialpolitiker René Springer hält die „hohe Steuer- und Abgabenlast und die stetige Ausweitung von Sozialleistungen“ für ein „staatlich organisiertes Raubrittertum“. „Wir verlieren uns in einem Dickicht der Sozialbürokratie“, sagt er. Die negativen Effekte seien lange bekannt. Er sieht die Lösung in einer radikalen Reform der Einkommensteuer. „Würde man die Leute nicht so stark steuerlich belasten, müssten viele auch keine Sozialleistungen beantragen.“


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