Interview mit Israels Armee-Sprecher„Die Hamas-Kämpfer sind die Helden der Generation unter 18“

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Gaza: Ein israelischer Soldat im Einsatz

Gaza: Ein israelischer Soldat im Einsatz

Israels Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar lässt das Massaker der Hamas vom 7. Oktober nicht los. Im Interview verrät er, wie existentiell die Ängste sind und warum die Hamas bei jungen Menschen im Gaza-Streifen einen guten Ruf hat.

Herr Shalicar, wie hat Sie der 7. Oktober verändert, als Sie die Nachrichten von dem Massaker gesehen haben? Was ist da mit Ihnen passiert?

Ich habe nicht geglaubt, was am 7. Oktober passiert. Es wirkte für mich, als ob es Syrien oder so etwas wäre. Ich konnte es den ganzen Tag lang nicht glauben, aber ich wurde direkt von der Armee angerufen und bin relativ schnell in der Uniform gewesen und als ich dann in die Armee kam, habe ich das Ausmaß der Katastrophe von innen gesehen. Die Armee-Information ist ja noch einmal eine andere als der Otto-Normalverbraucher, der angewiesen ist auf das, was auf dem Bildschirm läuft. Ich habe relativ schnell mitbekommen, dass das ein Turning-Point ist.

Ein Wendepunkt?

Ja, nichts wird mehr so sein wie am 6. Oktober. Das ist so komisch, wenn dich niemand darauf vorbereitet. Es war ein normaler Samstag. Ich wollte mit meiner Familie ans Meer fahren. Es war gutes Wetter und dass du plötzlich zu 100 Prozent dein Leben auf den Kopf gestellt bekommst und in einer Situation bist, wo über 1000 Menschen ermordet wurden, Hunderte entführt, Tausende verletzt wurden. Ich bin bis heute auf dem Afterschock.

Was bedeutet das?

Afterschock heißt, dass ich jeden Tag eine Situation habe, wo ich fast zusammenbreche, weil ich nach wie vor nicht glauben kann, was uns da am 7. Oktober passiert ist. Das hat auf mich wie ein Trailer von einem langen Film gewirkt. Wenn wir uns nicht gewehrt hätten, wäre dieser Trailer zu einem Film geworden. Dieser Film hätte mich und meine Familie auch erreichen können. Deswegen ist diese existenzielle Angst da, die ich sonst nie hatte. Man hört sonst die Geschichten: Holocaust und Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gespürt: Die Mörder sind nicht weit. Sie hätten auch bis zu meiner Familie durchdringen können.

Terrorangriffe gab es in den letzten 20 Jahren etliche. Es gab auch immer wieder Gegenreaktionen Israels bis hin zum Bau der Mauer und des Grenzzauns. Was ist an diesem 7. Oktober schiefgelaufen?

Untersuchungen werden nach dem Krieg gründlich durchgeführt. Was ist schiefgelaufen? Das liegt auf der Hand. Zum einen haben die Geheimdienste die Informationen entweder nicht gehabt oder nicht richtig ausgewertet. Man hat auch die Fähigkeiten der Hamas falsch eingeschätzt. Dass sie eine so groß angelegte, parallel laufende Militäroperation durchzuführen kann, hat man ihr nicht zugetraut. Wenn man Terrororganisation sagt, denkt man doch, es sind so ein paar Spinner, die auf Pick-up-Trucks rumfahren.

Wie groß schätzen Sie die Mannschaftsstärke der Hamas?

Wir reden hier über 20000 bis 30000 bewaffnete Mitglieder, ohne die Administration dazuzurechnen. Am 7. Oktober selbst sind insgesamt zwischen 3000 und 4000 Menschen eingedrungen. Die erste Welle bildeten rund 1500 bis 2000 Kämpfer der Hamas und der Eliteeinheit Nuchba. Der Rest, 1000 bis 1500 Menschen, war ein palästinensischer Mob, der hinterherkam und hier Menschen misshandelt, geraubt und vergewaltigt hat. Bis zum 6. Oktober habe ich gedacht, dass man doch als Terrorist auch ein bestimmtes Ehrgefühl haben müsse. Am 7. Oktober haben sie Kinder, Frauen und Alte ermordet, exekutiert, sie haben Körperteile getrennt von Körpern, sie haben Kinder und Babys verbrannt. Sie haben Juden, Muslime und Beduinen ermordet, sie haben thailändische Gastarbeiter abgeschlachtet. Sie haben keine Unterschiede gemacht.

Wie stark ist die Hamas in der Zivilbevölkerung verankert?

2006 wurde sie ja gewählt. 2007 kam es zum Bruderkrieg mit der Fatah. Intern palästinensisch, das wissen die meisten in Deutschland mittlerweile gar nicht mehr. Wir haben den Gaza-Streifen geräumt, haben ihn „Juden reingemacht“. Um die 8000 Juden kehrten zurück nach Israel.

Viele wissen nicht, dass es früher normal war, dass Israelis in Gaza-City am Strand waren.

Absolut. Mein Onkel ist dort Abendessen gegangen in Gaza-City in den Restaurants. Aber es hat sich dann ins Radikalere bewegt und 2005, als wir uns zurückgezogen haben bis auf den letzten Juden, hat die Hamas kurze Zeit danach die palästinensische Autonomiebehörde überrollt. Übrigens ist die Hamas heute genauso korrupt wie die Fatah damals war. Wenn man heute guckt, Chalid Maschal, Ismail Haniyya, die haben alle Milliardenkonten.

Das Volk leidet, aber sie haben das große Geld und reisen mit Privatjets durch die ganze Welt. Die Hälfte der Bevölkerung des Gaza-Streifens ist unter 18 Jahren alt. Die kennen nichts anderes. Sie sind mit der Hamas aufgewachsen. Es ist so wie in der Nazi-Zeit. Jemand, der unter Hitler geboren wurde, der weiß nicht, was vorher war. Der versteht nicht „Weimarer Republik“, für den gibt es nur die NSDAP. Wenn Fünfjährige ein Plastikgewehr bekommen und mit zehn Jahren in Terror-Camps üben, wie man ersticht, wie man schießt, wie man entführt, dann hat das einen Effekt.

Dann ist ein Großteil des Gaza-Streifens indoktriniert. Die Hamas-Kämpfer sind die Helden der Generation unter 18. Die Älteren kennen natürlich noch eine andere Realität. Nicht jeder dort denkt den ganzen Tag daran, Juden zu ermorden. Es gibt Menschen, die normal sind. Die wollen einfach nur leben.

Sie sind in Deutschland für viele Menschen das Gesicht dieses Krieges geworden. Belastet Sie das? Spüren Sie eine Last der Verantwortung?

Eine positive Last an Verantwortung, die ich gerne auf mich nehme, weil ich zu 100 Prozent weiß, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Da gibt es nichts zu rütteln. In diesem Konflikt zwischen Menschlichkeit und Barbarei, zwischen Leben und Tod, zwischen Frieden und Krieg, weiß ich, wo ich stehe. Deswegen gehe ich bis zum letzten Tag mit, weil ich den großen Wunsch habe, dass wir die Geiseln befreien, weil ich mich ihnen verpflichtet fühle. Ich hätte einer von ihnen sein können. Da hätte ich auch gerne Solidarität von allen anderen gehabt. Zum zweiten habe ich zwei Kinder und ich möchte, dass sie eines Tages in einer sicheren und friedlicheren Umgebung aufwachsen, wo sie nicht wieder in einem neuen Krieg gefangen werden und eventuell ihr Leben verlieren.

Wie nehmen Sie die Stimmungsmache gegen Israel wahr – selbst Greta Thunberg ist gegen sie?

Ich bekomme jeden Tag zwei Sorten von Nachrichten auf allen möglichen Kanälen. Das sind zum einen Hassbotschaften. Das sind leider oft junge radikalisierte Migranten, die mal arabisch, mal türkisch, mal albanisch sprechen, wo das typische Straßenlevel kommt: „Du Hurensohn, komm nach Berlin, ich ficke dich“. Dieses Dummgelaber. Das bekomme ich jeden Tag. Aber ich bekomme auch jeden Tag mehr Solidaritätspost. Menschen, die mir schreiben: „Arye, wir stehen hinter euch, Arye, zieht das durch.“ Die Hater, die am 7. Oktober Süßigkeiten verteilen, sind nicht die Mehrheit.

Wer hält zur Hamas – in Deutschland?

Das sind ein paar Tausend in Berlin, das sind ein paar Tausend in Bremen, in Aachen, Essen, Frankfurt, Duisburg, Dortmund. Das sind 30000, 50000 oder 100000, aber keine 82 Millionen Menschen. Die Frage ist, wie groß die Mehrheit ist. Auch die, die auf der Zuschauertribüne sitzen: Werden die Zuschauer nun gegen diese radikalisierten Männer aufstehen? Das ist der Typ, der in Freibädern Mädchen belästigt. Das ist der Typ, der Silvester 2015 in Köln war. Das ist der Typ, der auf dem Breitscheidplatz war. Jetzt ist die Zeit, um als Mehrheitsgesellschaft gegen zu halten. Wenn man sagt „Nie wieder“, dann ist „Nie wieder“ jetzt. Ich glaube, dass viele das in Deutschland verstanden haben. Ob da genug Taten folgen, ist eine andere Sache.

Sie sind jetzt 46 Jahre alt. Glauben Sie, dass ihre beiden Kinder es erleben werden, dass es eine Art Zwei-Staaten-Lösung gibt?

Der Nahost-Konflikt ist nicht nur Israel und Palästinenser. Wir werden auch von der Hisbollah beschossen, aus Syrien, aus dem Jemen, der Iran droht, der türkische Staatschef provoziert. Als Israel 1948 gegründet wurde, hattest du in dieser Region viele, die uns ins Meer jagen wollten. Sie kamen von allen Seiten. Heute gibt es noch die Fanatiker. Das haben wir am 7. Oktober gesehen. Hamas, islamischer Dschihad, Hisbollah, iranische Revolutionsgarden, die gibt es. Es gibt aber auch die andere Seite und die gab es früher nicht. Das sind alle möglichen moderaten Muslime und Araber, die mit uns lieber Friedensverträge haben. Deshalb glaube ich an eine bessere Zukunft, weil ich sehe, dass viele in der Region mit uns leben wollen.

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