Tödlicher Polizeieinsatz in NienburgAcht Schüsse und viele Fragen – warum musste Lamin Touray sterben?

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Mitarbeiter der Spurensicherung der Polizei arbeiten in der Friedrichstraße. Bei einem Polizeieinsatz in der Innenstadt von Nienburg in Niedersachsen ist ein 46 Jahre alter Mann tödlich verletzt worden.

Mitarbeiter der Spurensicherung der Polizei arbeiten in der Friedrichstraße. Bei einem Polizeieinsatz in der Innenstadt von Nienburg in Niedersachsen ist ein 46 Jahre alter Mann tödlich verletzt worden.

„Beamtin verletzt, Hund verletzt, Mann tot“ – so fasst es die Polizei zusammen. Aber: Warum musste Lamin Touray aus Gambia sterben? Das will nicht nur seine Familie wissen.

In der Nienburger Friedrichstraße deutet nur noch wenig auf das Drama hin, das sich hier am Ostersamstag abgespielt hat. In einem Busch hängt der Rest eines Absperrbandes. Auf dem Boden kleben vereinzelt noch kleine Zettel mit schwarzen Pfeilen. Ob sie der Spurensicherung deuteten, wo das Messer hingefallen war, mit dem Lamin Touray nach Angaben der Polizei gedroht haben soll? Oder zeigten die Pfeile auf Patronenhülsen, die hier zu Boden gingen?

Achtmal schossen die Polizisten bei dem Einsatz in der niedersächsischen Stadt an der Weser. Alle acht Projektile drangen nach Angaben der ermittelnden Staatsanwaltschaft Verden in den Körper des 46-Jährigen ein. Eine der Kugeln traf Touray ins Herz, eine andere in die Leber. Die Obduktion sollte später ergeben, dass der Schuss ins Herz tödlich war. Auch eine Polizistin wurde durch Polizeikugeln verletzt. Wie genau – etwa durch einen Streifschuss –, ist noch unklar. Sie wurde mit einem Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus geflogen. Touray starb auf der Terrasse vor seiner Wohnung.

Ein Stromkasten an der Friedrichstraße hat sich zu einer Gedenkstätte verwandelt. Passanten legen Blumen ab und zünden Kerzen an. „Was ist das Ziel von 8 Schüssen?“, lautet die Frage auf einem Zettel. Auf einem anderen steht „Justice for Lamin“ – „Gerechtigkeit für Lamin“. Selfies von Touray, der aus Gambia nach Deutschland kam, zieren den Gedenkort – mal lächelt er in die Kamera. Auf einem anderen Foto trägt eine Baseball-Kappe und schaut ernst.

Es ist derselbe Mann, der schemenhaft auf einem wackeligen Handyvideo zu erkennen ist, das am Ostersamstag von der anderen Straßenseite aus gefilmt wurde. Ein Zaun versperrt weitgehend die Sicht auf das, was dahinter passiert. So viel aber ist zu erkennen und zu hören: Ein Hund bellt, mutmaßlich ein Polizeihund. Vor der Wohnung steht ein Polizeitransporter mit Hundezwinger. Vier, vielleicht fünf Polizisten sichern die Rückseite der Wohnung Tourays ab. Sie liegt im Erdgeschoss, ein kleiner Garten gehört dazu.

Auf dem Video sind Schüsse zu hören – wer feuert, ist unklar

Einige Beamte scheinen die Hand am Holster zu haben. Sie bewegen sich in Richtung Wohnung. Zwei Schüsse sind zu hören. Wer feuert, ist unklar. Möglicherweise Polizisten, die sich in der Wohnung befinden. Die Tür, das bestätigen Zeugen unserer Redaktion, war zuvor aufgebrochen worden.

Dann tritt Touray in den sichtbaren Bereich des Gartens, er trägt ein helles T-Shirt, hält etwas in der rechten Hand, vielleicht ein Messer. Was genau, ist auf dem Video nicht erkennbar. Er kommt einer Polizistin sehr nahe, sie verlässt den Bildausschnitt. Aus dem Hintergrund scheint ein Beamter relativ ungezielt mit Pfefferspray zu sprühen, er rennt in Richtung Straße und aus dem Bild.

Es fallen in schneller Folge fünf weitere Schüsse. Auch hier ist nicht zu erkennen, wer schießt. Touray dreht sich, fällt hinter dem Zaun zu Boden, er ist auf dem Video nicht mehr zu sehen. Dann – einige Sekunden später – fällt ein weiterer Schuss, der achte. Ein Beamter läuft rückwärts ins Bild. Er scheint zu seinem Funkgerät zu greifen. Damit endet das Video. Und so endete auch das Leben von Lamin Touray.

Die Polizei Nienburg verschickt am frühen Nachmittag des Ostersamstags eine Pressemitteilung. Darin steht: „Am heutigen Vormittag (30.03.2024) kam es zu einem Großeinsatz auf der Friedrichstraße in Nienburg, bei dem eine Polizeibeamtin und ein Diensthund schwer verletzt sowie eine männliche Person tödlich verletzt wurden.“ Zur Vorgeschichte heißt es dort: „Gegen 9:55 Uhr bedrohte ein 46-jähriger Mann seine Freundin mit einem Messer. Diese konnte fliehen und die Polizei verständigen.“ Aus Neutralitätsgründen übernehme nun die Polizei Verden die Ermittlungen.

Eine Woche später: Immer wieder machen Menschen an dem Stromkasten halt. Sie lesen die Botschaften, legen Blumen nieder, zünden Kerzen an. Darunter sind Bekannte von Touray und völlig Unbeteiligte. Der 46-Jährige sei ein „Sonnenschein“ gewesen, immer freundlich und hilfsbereit, erzählt eine Nachbarin. Eine Passantin sagt: „Er ist gestorben, weil er schwarz war.“ Ein anderer: „Das war eine Hinrichtung.“

Misstrauen gegen die Polizei

So oder ähnlich äußern sich viele an diesem Tag. Ein Misstrauen in die Polizei wird deutlich, große Zweifel an dem Einsatz, in dessen Folge der nackte Leichnam von Touray wohl mehrere Stunden auf der Terrasse lag. Wie kann das sein, wo doch die Mitteilung der Polizei so wenig Zweifel aufkommen ließ am Vorgehen der Beamten?

Es ist das Video, auf dem hörbar der achte Schuss erst mit deutlicher Verzögerung abgegeben wird. „Das Video hat hier jeder auf dem Handy“, sagt eine Nachbarin. Es ist ein Artikel in der „TAZ“, in dem sich Tourays Freundin äußert, die zwar die Polizei alarmiert haben, aber nicht von ihm bedroht worden sein will. Mehr noch: Sie habe den Beamten sogar angeboten, zu deeskalieren, während diese mehrere Stunden vergeblich auf Touray einwirkten und am Ende offenbar den Polizeihund von der Leine ließen. Und es sind Aktivisten vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat und aus der gambischen Gemeinschaft in Deutschland, die fragen, warum Touray sterben musste.

Touray, das bestätigen mehrere Vertraute unserer Redaktion, befand sich vor Ostern in einem psychischen Ausnahmezustand. Was genau Auslöser war, ist unklar. Aggressiv hat ihn niemand erlebt. So viel ist zu erfahren: Er hatte gesundheitliche Probleme, soll Anfang des Jahres einen Bandscheibenvorfall erlitten haben. Seinen Job in einer Paletten-Firma konnte er deswegen nicht mehr ausüben. Auf seinen Wunsch hin, so heißt es, sei ein Aufhebungsvertrag aufgesetzt worden. Nicht nur im Job war es für Touray zuletzt schwierig: Seine Ehe stand offenbar vor dem Aus. Außerdem drohte dem Gambier die Abschiebung in sein Heimatland.

Am Gründonnerstag holte ihn die Bundespolizei in Hamburg-Harburg aus einem Zug. Er war ohne Fahrschein unterwegs. Auf der Wache entdeckten die Beamten ein Messer. Die Staatsanwaltschaft Hamburg schreibt unserer Redaktion: „Bei dessen Sicherstellung kam es zu einer Auseinandersetzung, in deren Rahmen nacheinander drei Beamte verletzt wurden, wobei ein Beamter mit dem Messer verletzt wurde. Woher das Messer stammte, ist hier nicht bekannt.“

Ob Touray zugestochen hat, lässt die Staatsanwaltschaft offen. Den Antrag auf Untersuchungshaft lehnt das Amtsgericht Hamburg jedenfalls ab. Touray fuhr wieder nach Nienburg und zog sich offenbar in seine Wohnung zurück. Am Karfreitag wählte die Freundin wohl das erste Mal den Notruf in Sorge um Touray. Ein Krankenwagen fuhr unverrichteter Dinge wieder davon. Am Folgetag der zweite Notruf, der den Großeinsatz auslösen sollte.

Die Polizei Nienburg hatte Kenntnis von dem Vorfall in Hamburg und den verletzten Kollegen, als sie in die Friedrichstraße kam. Das bestätigt die Staatsanwaltschaft Verden. Sie führt nun Ermittlungen gegen alle 14 Beamten, die am Ostersamstag im Einsatz waren. Wer hat wann wie oft und warum geschossen? Was wussten die Polizisten über den Einsatz in Hamburg? Hatte die Freundin tatsächlich geäußert, sie werde bedroht? Insbesondere mit einem Messer?

Bodycams sollen Angriff auf Polizeihund und Beamten zeigen

„Hintergrund für den Einsatz war, dass seitens der Polizei aufgrund eines Notrufes der 40-jährigen Freundin von einer Bedrohungslage mit einem Messer ausgegangen wurde“, teilt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Verden mit. Und weiter: Eine erste Auswertung von zwei Bodycams der Polizisten vor Ort habe gezeigt, dass Touray sich auf der Terrasse befand und aufgefordert wurde, das Messer niederzulegen. Dann habe Touray auf den Hund eingestochen und einen Polizisten angegriffen, der das Messer mit einem Schild abwehren konnte. In der Folge fielen die tödlichen Schüsse.

Weil alle Polizisten erst einmal als Beschuldigte geführt werden, müssen sie sich nicht dazu einlassen. Auch für Polizisten gilt das Aussageverweigerungsrecht. Ob sie davon Gebrauch machen, lässt die Staatsanwaltschaft offen.

Die Aufnahmen der weiteren Bodycams der eingesetzten Beamten dürften zeigen, was auf dem kurzen Handyvideo nicht zu erkennen ist. Warum die ruhige Lage, wie es die Staatsanwaltschaft es formuliert, zu einer dynamischen wurde. Was passierte in der Wohnung? Wie reagierte Touray? Und vielleicht auch: War es wirklich notwendig, achtmal auf ihn zu schießen?

Viele Fragen sind offen, und bis die Behörden in Niedersachsen darauf antworten (können), dürfte es dauern. Dabei schlägt der Fall sogar international Wellen. Die gambische Regierung hat sich eingeschaltet. Deutsche Diplomaten mussten erklären, was in Nienburg passiert ist. Das Außenministerium Gambias teilte mit, nicht nur für Tourays Familie sei dessen Tod ein Schlag, sondern für die ganze Nation und die Diaspora im Ausland. Die Regierung werde alles dafür tun, für Gerechtigkeit in dem Fall zu sorgen.

Von der Staatsanwaltschaft in Verden heißt es, die Ermittlungen dauerten an. Sie würden gründlich und mit äußerster Sorgfalt geführt. Das nehme Zeit in Anspruch. Derweil haben Tourays Kollegen und sein Arbeitgeber eine Todesanzeige in der örtlichen Zeitung geschaltet. Darin heißt es: „Wir trauern um einen liebenswerten Menschen, einen vorbildlichen Mitarbeiter und Kollegen.“


Parallelen zum Fall Dramé

Der Tod von Lamin Touray weist erstaunliche Parallelen zu den tödlichen Schüssen auf, die am 8. August 2022 in Dortmund fallen. Der 16-jährige Mouhamed Dramé, ein unbegleiteter Flüchtling aus dem Senegal, hat am Tag zuvor auf einer Polizeiwache Suizidabsichten geäußert. Er wird in einer Klinik psychiatrisch untersucht und zurück in seine Wohneinrichtung gebracht.

Am nächsten Tag zieht er sich dort mit einem Messer in eine Ecke des Hinterhofs zurück. Auf Ansprachen reagiert er nicht, Betreuer rufen die Polizei. Elf Polizistinnen und Polizisten erscheinen vor Ort. Sie setzen zunächst Pfefferspray, dann, als der Jugendliche angeblich mit dem Messer auf sie zugeht, Elektroschockgeräte (Taser) ein. Ein Beamter feuert schließlich sechsmal mit einer Maschinenpistole. Vier Projektile treffen Mouhamed Dramé. Er stirbt. Nach und nach stellt sich heraus, dass die Polizei wohl die Lage ohne Not selbst eskalierte, anstatt dem Verzweifelten zu helfen.

Ein halbes Jahr danach erhebt die Staatsanwaltschaft Dortmund Anklage gegen fünf Beamte. Die Polizisten, die Taser und Reizgas einsetzten, werden der „gefährlichen Körperverletzung im Amt“ beschuldigt, der Einsatzleiter der Anstiftung zur Körperverletzung, dem MP-Schützen wird Totschlag vorgeworfen. Der Prozess läuft noch. (mk)

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