St. MartinskircheRheinbacher Kirchenraum im Wandel

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In der Kirche St Martin in Rheinbach wurden die alten Bänke weggeräumt. Eine Gruppe sitzt zur Andacht im Kreis beisammen.

So sah der Kirchenraum von St Martin nach dem Ausräumen der Bänke aus. Eine Gruppe sitzt zur Andacht im Kreis beisammen.

Lange wurde geplant, viel wurde diskutiert, einiges kam dazwischen - aber jetzt wurde es umgesetzt: Die Bänke sind aus dem Hauptschiff der St. Martinskirche herausgeräumt worden, um etwa ein Jahr lang zu erproben, welche neuen Chancen der Raum bietet.

Es ist Samstagmorgen 9 Uhr im Herzen von Rheinbach: Vor der Pfarrkirche St. Martin halten Traktoren mit großen Anhängern, es werden Blumenkübel versetzt und mit Hilfe der tatkräftigen Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr bis zu 5,50 Meter lange und schwere Holzbänke aus den weit geöffneten Doppeltüren getragen. „Was ist denn hier los?“, fragt eine Frau mit Einkaufstaschen neugierig.

Eine vor dem Eingang aufgestellte Stellwand gibt ausführliche Auskünfte. „St. Martin packt’s an, heute!“, ist dort zu lesen, gleich darunter hängt eine Skizze. Die Leser erfahren, dass am Tag alle Bänke aus dem Mittelschiff der Kirche ausgeräumt und zwischengelagert werden sollen. Ersetzt werden sie durch Stühle, die aus verschiedenen Ecken der Stadt zusammengetragen werden, zum Beispiel aus dem Keller der Kindertagesstätte St. Helena.

Etwa 65 angemeldete Helfer sind vor Ort, darunter Feuerwehrleute aus Rheinbach und Oberdrees sowie die Mitarbeiter und jugendlichen Helfer vom „Live St. Martin“. Rund 200 Stühle tragen sie aus dem Speicher des in der Nähe gelegenen Jugendzentrums über die Hauptstraße auf den Vorplatz der Kirche. „Die sind natürlich etwas eingestaubt, darum wischen wir sie erst draußen mit Wasser und Spülmittel ab“, kommentiert Einrichtungsleiter Sven Kraywinkel. Für den Sozialpädagogen und seinen Mitarbeiter Johannes Parting ist es Ehrensache anzupacken.

„Viele Hände, schnelles Ende“

In der ersten Frühstückspause gegen 10.30 Uhr darf dann bei Kaffee und Brötchen auch mal geträumt werden: „Ein offener Kirchenraum bietet Chancen, die Jugendlichen mit Film-Abenden, Konzerten oder Poetry-Slams anzusprechen“, überlegt Kraywinkel. Doch vorher werden sie die Kinder und Jugendlichen fragen, was sie möchten. Ideen dazu sollen bereits in dieser Woche gesammelt werden: „Ein spannendes Projekt“, finden die Sozialarbeiter.

Katechetin Leonie Grüner von der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) bestätigt: „Die Aktion war dringend notwendig.“ Es sei der erste Schritt in die richtige Richtung, sagt die 20-Jährige: „Wenn die Bänke, die bisher in einem starren Muster standen, nun weggestellt und durch Stühle ersetzt werden, deren Position jederzeit verändert werden kann, ist das auch ein Zeichen für Veränderungen in der Kirche.“ Die junge Frau erhofft sich einen offenen und flexiblen Raum für alle Menschen, sowohl räumlich als auch strukturell.“

Auch die Mädchen Saskia (16 Jahre) und Caroline (15 Jahre) aus der Firmgruppe sind nicht traurig, dass die alten, braunen Bänke weg sind. „Auf denen haben wir schon als Kinder gesessen, die sind wirklich nicht schön.“ Mit den verschiedenen Stühlen sehe der Raum offener aus. Beide hoffen nun, dass auch „der Gottesdienst in Zukunft nicht mehr so steif sein wird“. Rainer Perschel vermutet, dass zumindest einige der Bänke noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammen könnten.

Der ehrenamtliche „Kümmerer“, wie er von Organisator Roland Keil wertschätzend genannt wird, ist seit den 1990er Jahren in der Gemeinde. „Da standen die Bänke schon im Kirchenschiff“, berichtet er, bevor er wieder schnell entschwindet, um für das Frühstück einen Tisch zu besorgen. Joachim Schneider vom Kirchenvorstand ist 55 Jahre alt und kennt ebenfalls keine anderen Sitzgelegenheiten. Kristin Schulte-Beckhausen, Leiterin der Kita Liebfrauenwiese, ist neugierig auf die Reaktion der Jüngsten, für die zum ersten Mal Sitzkissen auf dem Boden liegen werden: „Wir sind gespannt, wie die Kinder das erleben werden, wenn sie nicht mehr nur auf der Bank sitzen müssen.“ Ihr pädagogischer Auftrag sei es, trotz aller Lockerungen die Formen zu wahren: „Es ist immerhin ein Gotteshaus.“

Von Vorteil sei, dass die neue Sitzanordnung mehr Platz für sperrige Kinderwagen und Buggys biete. Aber auch Menschen im Rollstuhl könnten sich nun besser einbringen und säßen nicht mehr in einer Ecke. Organisator Roland Keil vom Kernteam bezeichnet die Aktion als einen Anfang. In Zukunft sollten Ideen zur weiteren Nutzung entwickelt werden: „Damit wir für alle Menschen in der Gemeinde ansprechbar und interessanter werden.“ Der Aspekt der Barrierefreiheit sei einer von vielen Überlegungen, sagt er und weist auf den experimentellen Charakter des auf zunächst auf ein Jahr angelegten Vorhabens hin. Die Bänke würden in dieser Zeit im leerstehenden Vereinshaus der Schützen zwischengelagert.

10.05 Uhr: Die Hälfte der insgesamt 42 Bänke ist bereits abtransportiert, neben der Kirche stapeln sich die Stühle, über dem Geländer trocknen bunte Putzlappen. Geschäftig laufen Menschen hin- und her, auch auf der Empore wird geräumt. Am Taufbecken, neben dem der Kaffee steht und die Brötchen aufgebaut sind, ist plötzlich vertrautes Glockengeläut zu hören. Es ist das Handy von Einsatzleiter Roland Keil, bei dem am Tag alle Fäden zusammenlaufen. Ohne Hektik ist er multifunktional unterwegs und dirigiert das Heer von 65 angemeldeten und zahlreichen zusätzlichen Freiwilligen, die „einfach so“ vorbeigekommen sind. „Ohne diese zahlreichen engagierten Gemeindemitglieder würde es nicht funktionieren“, sagt er. Eine Anfrage nach einem Metallbohrer leitet er direkt an Mitstreiter Günter Spittel weiter. Sein eigenes rotes Taschenmesser hat er schon verliehen. Außerdem fehlt noch ein Flaschenöffner, erfährt er.

Zum Abschluss eine Andacht

10.25 Uhr: Kaum ist ein Gespräch beendet, ruft er den nächsten Helfer an, der gerade Spezialwerkzeug im Baumarkt besorgt und dem er eine weitere Bestellung durchgibt: „Wir brauchen noch Panzertape.“ Die Planung zur Räumaktion sei drei Jahre alt, berichtet er. Die Idee sei in der Gemeinde entstanden und von den entsprechenden Gremien, dem Pfarrgemeinderat und dem Kirchenvorstand, verabschiedet worden. 10.30 Uhr: Die letzten Bänke werden verladen. Die Anzahl der Sitzplätze reduziere sich nun um etwa ein Drittel, rechnen die Organisatoren vor. Geplant sei allerdings, für größere Veranstaltungen weitere Sitzgelegenheiten bereitzustellen. Mitorganisator Spittel schickt seinen Dank an das Team vom Live St. Martin und die Kameraden der Wehr: „Ohne sie hätten wir das nicht geschafft!“

Danach kommt das automatische Reinigungsgerät zum Einsatz, mit dem die weitläufigen Bodenflächen nass behandelt werden. Mit Spiritus, einer Heißluftpistole und Spachtel rücken Michael Glaser, Julia Dörflinger und Alina Grüner den gelb-schwarzen Abstandsstreifen zu Leibe, die noch aus den Corona-Hochzeiten auf dem Boden kleben. Helferin Birgit Keil von der Ortsgemeinde der katholischen Frauen Deutschland (kfd) erinnert sich an die unschönen Zeiten von Abstandsvorschriften und gesperrten Plätzen, die ein Gefühl von Einsamkeit im Kirchenraum vermittelten. In dieser Zeit wären Stühle „einfach netter gewesen“, sagt sie, denn dann hätte es sich „nicht so leer angefühlt“. Nach dem warmen Mittagessen, das Gemeindemitglied Reiner Lützen organisiert hat, werden die Stühle aufgestellt.

Der Raum wirke nun viel heller und durch die lockerere Bestuhlung offener und einladender, stellt Maria Hofer vom Orga-Kernteam fest. „Hier sollte jetzt jeder eine ihm passend erscheinende Art des Sitzens finden: von der klassischen Bank bis zum Stuhl.“ Viel früher als erwartet endet der arbeitsreiche Tag gegen 14 Uhr mit einer gemeinsamen Andacht. Mit einem großen Sitzkreis nutzen die Freiwilligen zum ersten Mal die neuen Möglichkeiten des Kirchenraums. Die Bilanz des Tages fällt positiv aus: „Wir sind sehr zufrieden und glücklich mit dem Ablauf“, so Maria Hofer.

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