Erinnerung an die FlutkatstropheJede Wasserstandsmarke steht für ein Schicksal

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Die neue Internetseite verknüpft Schicksalsberichte mit Flutmarkenstandorten.

Swisttal – Die Flut vom 14. Juli 2021 hat Abertausende Menschen entlang der kleinsten Wasserläufe in Lebensgefahr gebracht und ihnen Hab und Gut genommen. Weil so vieles aus dieser Naturkatastrophe, den menschlichen Tragödien und den Problemen in der Praxis, zu lernen ist, vertreibt der Bürgerverein Odendorf „Flutmarken“ – gläserne Wasserstandsmarken mit dem Datum des Ereignisses – als Gedächtsnisstütze und dauerhafte Mahnung. Eine neue Internetseite, deren Adresse ebenfalls das Flutdatum ist, verbindet nun die Standorte von solchen „Flutmarken“ mit Geschichten von Betroffenen.

Die ersten Schicksalsberichte stehen bereist auf der Seite und zeichnen einen gigantischen „Fußabdruck der Flut“ nach, wie Organisator Klaus Jansen aus Odendorf findet. Schon weit über den Swisttaler Ort und die Kreisgrenze hinaus gibt es bereits Eintragungen.

Hubertus (64) und Jens Buhr (55) sind seit 15 Jahren verheiratet. Ebenso lange wohnen die beiden bereits in Odendorf. Wie sie die Flut In der Freiheit 7 in Odendorf erlebten, hat Jens Buhr aufgeschrieben:

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Zeigen mit der Marke, wo die Flut stand: Heribert und Jens Buhr.

Mittwoch, 14. Juli 2021

„Tauchpumpe und Kabeltrommel standen vorsichtshalber schon für die Hilfe in Nachbarskellern bereit. Gegen 17.30 Uhr habe ich sie bei Helga eingesetzt, zwei Stunden später bei Sandra.“ Auf der Freiheit stand da das Wasser schon so hoch, dass Gummistiefel nötig waren. Während Sandra und Hubertus die Pumpe installieren wollten, lief es schon von allen Seiten in den Keller und die beide mussten schnell raus. „Ich habe noch  Sandras Mülltonnen in unseren Garten hochgeschafft. Als ich ihre letzte Tonne oben hatte, fing unsere erste an zu schwimmen. Hubertus kam völlig durchnässt nach Hause und der Strom fiel aus. Minuten später auch das Handynetz. Ich hab schnell überall Kerzen aufgestellt, und dann stand das Wasser schon an der Haustür. Hubertus ist raus auf die Jakobstraße. An Schüllers Hausecke mussten er und Irene sich festhalten und sahen Renés neues Auto vorbeischwimmen.“

„Wir haben noch versucht, mit Handtüchern abzudichten und das Wasser mit einem Kehrblech abzuschöpfen. Aber als der Eimer halb voll war, stand das Wasser schon 30 Zentimeter hoch. Zeit aufzugeben. Wir haben uns den Hund und Bier geschnappt und sind ins Gästezimmer hoch. Gegen 22.30 Uhr glaubte ich, Sirenen durch das ohrenbetäubende Rauschen zu hören. Es gibt ein Gerumpel und Klirren – der Tiefkühler ist aufgeschwommen und das darauf stehende Weinregal zu Bruch gegangen.

Gegen 23 Uhr begann das Wasser langsam zu sinken, und im Bad lief es schon  in den Kanal ab. Etwas später hörten wir Rufe auf der Jakobstraße: Gaby, Helga und Anja hatten Emra aufgegabelt, der versuchte, in sein Haus zu kommen. Die ungefährlichste Idee war, durch unser Haus. Stufe um Stufe hat er sich durchs tiefe Wasser zum Küchenfenster durchgetastet. Es schwamm ja alles Mögliche rum:  Altglas und Schuhe. Es war rutschig. Er ist über unseren Garten bis zum Tor. Als er es endlich offen hatte und bis zu Sandras Treppe war, stand er schulterhoch im Wasser, aber er konnte sich irgendwie zum Flurfenster hochhangeln.

Bei dieser Aktion durfte Odo natürlich nicht fehlen und ist von der Treppe ins dunkle Wasser gesprungen und zu mir ans Küchenfenster geschwommen. Wir sind gegen 2 Uhr ins Bett und haben versucht zu schlafen, mit Ohrstöpseln und trotzdem waren da das Rauschen, immer wieder Hubschrauber und Martinshörner. Später habe ich erfahren, dass die Hubschrauber in Schuld die Leute von den Dächern gerettet haben.“

Donnerstag, 15. Juli 2021

Wir sind gegen 6.30 Uhr wach geworden. Der Blick aus dem Schlafzimmer in den Garten ist ein Schock. Alles Mögliche liegt überall rum. Alle Mülltonnen – mit der von Sandra sind es acht – sind aufgeschwommen und haben ihren Inhalt bis in die Büsche verteilt. Kaffee kochen geht ja nicht – das Haus ist voller Matsch und es gibt keinen Strom. Wir fangen an, uns den Weg zum Gartentor zu bahnen. Mit einem Kehrblech schaufeln wir einen Weg frei. Mülltonnen und Holzhackklotz müssen weichen.

Als ich das Tor aufkriege sacke ich bis zur Wade im Matsch ein. Um nicht ganz ohne jede Info zu sein, gehe ich zum Wohnmobil, weil wir da ein Transistorradio haben. Das Wohnmobil und die Halle bei Pingen sind trocken, die Steinbachstraße auch. Als gegen 9 Uhr die Feuerwehr vor der Tor steht und sagt wir müssten raus, weil die Steinbach brechen könnte, hatten wir im Radio schon die Nachrichten von der Ahr gehört und haben nicht lange gezögert. Ein paar Sachen einpacken und weg nach Arzdorf.

Die Nachbarn standen oben bei Anja. „Geht ihr weg? Die Feuerwehr sagt: Wir müssen raus“. Unsere Entscheidung erspart uns eine chaotische Flucht bei der späteren Evakuierung.  Gegen Mittag soll die Polizei durchgesagt haben „Die Steinbach ist gebrochen – alle sofort raus“, wie Anja sagt. Gegen 16 Uhr habe es von einem Hubschrauber Megafondurchsagen gegeben, berichtete Rudi: „Sofort raus die Steinbach bricht.“ Da saßen wir schon bei Bier auf dem Platz. Wir hatten uns vorher in Berkum mit allem für ein paar Tage versorgt.

Der Weg nach Arzdorf war tricky: raus über die Feldmark, überall Stau wegen der Sperrung der  A 61 und den vielen liegengebliebenen Autos auf den Straßen. In Arzdorf haben wir dann wieder Netz und Fernsehen. Ab  Meckenheim gab es Strom. Wir schlafen erstaunlich gut ein.

Freitag, 16. Juli 2021

Wir stellen fest, dass uns noch ein paar Sachen fehlen und fahren nochmal nach Hause. Wir nehmen wieder den Weg über die Feldmark und parken bei Helga und gehen durch ihren Garten zur Jakobstraße. Ich klopfe überall, aber niemand ist da. Wir hatten zwar im Radio von Evakuierungen gehört aber nicht gewusst, dass es die Dörfer komplett betrifft. Wir haben noch die benötigten Sachen zusammengesucht und sind wieder weg.

Auf dem Rückweg nach Arzdorf kam uns zum ersten Mal die Vorstellung von einer „Katastrophe“ in den Kopf, als wir einen 30 bis 40 Fahrzeuge langen Konvoi der DLRG mit Booten aus Stade und anderen Städten sahen. Die ersten Tränen liefen. Wir hatten Gefühle, die wir zunächst nicht richtig einordnen konnten. War es Dankbarkeit? Verzweiflung?

Auf dem Platz sind Leute aus Dernau an der Ahr. Sie berichten von ihren drei Häuser, die nun weg sind. Es wird damit begonnen, Dinge und Geld zu sammeln. Wasser wird an die Ahr gebracht, auch nach Ahrweiler. Ein freier Stellplatz wird an Leute aus Walporzheim (einem Stadtteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler)  vermietet. Ich frage Dieter, ob ich irgendwo waschen kann, zumal auch Covid grassiert. Er sagt: „Moment“, erzählt den anderen, dass jetzt auch gesammelt wird für Flutopfer. Ich hebe den Arm, und er guckt mich an: „Ihr auch? Nimm einfach die Geschirrspülen.“

Die nächsten Tage

Sitzen, Essen, Trinken, Schlafen – und alle halbe Stunde Radio Bonn-Rhein-Sieg hören wegen der Steinbach. Wir sehen die Bilder aus Blessem, Münstereifel, Ahrweiler, Schuld, suchen Nachbarn über Handy und geben der Familie Entwarnung. Wir sind sicher.

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