„Hätte meine Tochter sein können“Wie Zeitzeugen sich an den Fall Claudia Ruf erinnern

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  • Ihr Mann entdeckte die Leiche von Claudia Ruf. Bis Renate R. mit ihrem Mann darüber sprach vergingen Wochen.
  • Ein Oberwichtericher hatte die Angst, dass ein Mann aus der Nachbarschaft für den Mord verantwortlich ist.
  • Journalisten und Polizisten erinnern sich noch genau an den 13. Mai 1996.

Oberwichterich/Euskirchen – Der Ordner mit Original-Tatortfotos hat die Flut überstanden. Dort sind auch zahlreiche alte Berichte chronologisch abgeheftet. Der Mordfall Claudia Ruf hat die Lokalredaktion in Euskirchen in den vergangenen 26 Jahren immer wieder beschäftigt. Die, die damals am Tatort waren, haben die Eindrücke nie vergessen. Die, die sich heute immer mal wieder mit dem Fall beschäftigen, lässt der Mord ebenfalls nicht los. Und natürlich ist der Mord an der Elfjährigen auch fast 26 Jahre später in Oberwichterich, dort wo die Leiche in einem Feld entdeckt worden war, noch ein Thema.

Die Oberwichtericherin Renate R. hat den Mord an Claudia Ruf nicht vergessen. Ihr Mann Hans fand das tote Mädchen am 13. Mai 1996 gegen 17 Uhr beim Spaziergang mit den beiden Familien-Hunden. „Die sind vorgelaufen und haben geschnuppert. Mein Mann wunderte sich noch darüber, was die Leute alles wegwerfen. Er hat gedacht, dass es eine Schaufensterpuppe ist, die da im Feld liegt“, berichtet die Zeitzeugin. Hans R., damals 43 Jahre alt, machte sich sofort auf den Weg nach Hause, alarmierte die Polizei. Der Oberwichtericher spazierte damals westlich des Bleibachs in Richtung Mülheim-Wichterich.

Über einen Feldweg, der nach etwa 600 Metern an einen asphaltierten Wirtschaftsweg grenzt, wollte der 43-Jährige nach Hause. Zwischen Bleibach und Wirtschaftsweg entdeckte Hans R. den leblosen Körper. Seine Frau war an diesem Tag noch nicht zu Hause. Sie war arbeiten. Erst einige Stunden später erfuhr sie von dem grausamen Fund. Ihre Schwiegermutter berichtete ihr, wo ihr Mann ist, was für grausige Momente er erlebt haben muss. „Ich habe sofort gesagt, dass das bestimmt das Mädchen ist, das seit Samstag vermisst wird“, sagt Renate R. im Gespräch mit dieser Zeitung.

Die Polizei holte ihren Mann Zuhause ab und fuhr mit ihm zur Fundstelle von Claudia Ruf. Später ging es für ihn noch auf die Polizeiwache. „Ich bin angerufen worden, dass ich meinen Mann abholen könne. Ich sollte ihm neue Kleidung mitbringen“, erinnert sich die Oberwichtericherin. Seine Kleidung musste der 43-Jährige bei der Polizei lassen.

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Der Fall habe sie nie wirklich losgelassen. „Immer wenn ein Kind verschwindet, kommen automatisch die Erinnerungen hoch“, sagt Renate R.: „Und natürlich lesen wir auch die Berichte, die immer wieder kommen. Ob der Fall jemals gelöst wird. Da zweifle ich dran.“ In dem kleinen Ort an der Grenze zwischen Euskirchen und Zülpich sei die Anteilnahme groß gewesen. „Uns hat man nicht angesprochen. Uns hat man in Ruhe gelassen, um uns zu schützen. Aber natürlich was das Gesprächsthema im Ort“, so die Oberwichtericherin. 

Sie habe damals ihren Mann nicht direkt gefragt, wie das so war am Montag, 13. Mai 1996. „Ich habe mir immer gesagt, dass er mir das schon erzählt, wenn er denn etwas erzählen möchte“, so Renate R. Ihr Mann sei Krankenpfleger gewesen. Er habe die Situation sofort einordnen können, als klar gewesen sei, dass da im Feld eben keine Schaufensterpuppe liegt. „Bis mein Mann mir etwas mehr erzählt hat, hat es eine Zeit lang gedauert“, so die Seniorin.

„Der Ort stand unter Schock“

Ein anderer Zeitzeuge, der namentlich nicht genannt werden möchte, erinnert sich ebenfalls noch an den Moment, als die Nachricht sich im Dorf verbreitete wie ein Lauffeuer. „Der Ort stand unter Schock. Ich habe nur gedacht, dass das nicht wahr sein darf“, sagt der Oberwichtericher: „Das hätte auch meine Tochter sein können“, sagt er. Den Gedanken daran habe er immer wieder verdrängt. Das sei gelang mal mehr, mal weniger gut: „Natürlich hatte ich auch Angst, dass der Täter aus dem Dorf, vielleicht sogar aus der Nachbarschaft kommt.“ Im Gegensatz zu Renate R. glaubt der Oberwichtericher daran, dass der Täter noch gefunden werden könnte.

So erlebten weitere Zeitzeugen den Fall Claudia Ruf

Thorsten Wirtz, damals für die Kölnische Rundschau im Einsatz:

Der Mordfall Claudia Ruf war das erste Kapitalverbrechen, das ich als junger Journalist und Mitglied einer Redaktion unmittelbar mitverfolgt habe. Als die Meldung über den Leichenfund bei Oberwichterich an einem späten Montagnachmittag eintraf, brach sofort hektische Betriebsamkeit in der Rundschau-Redaktion aus. Die Dienstags-Ausgabe wurde umgeplant, um auf der lokalen Titelseite Platz für den Bericht über die zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Leiche zu schaffen. Schockiert waren alle, als kurze Zeit später klar war, dass es sich um die Leiche eines Kindes handelte.

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Damit Polizeireporter Bernd Zimmermann Zeit für die Recherche hatte, übernahm ich von ihm einige Routineaufgaben. Wahrscheinlich redigierte ich Texte der freien Mitarbeiter, die am Wochenende ihre Storys abgeliefert hatten, und platzierte die Artikel auf den hinteren Lokalseiten. Genauer kann ich mich an den Abend des Leichenfunds nicht mehr erinnern – gebannt verfolgte ich die News, die nach und nach von den Kollegen recherchiert wurden. Gleichzeitig faszinierte es mich, wie die erfahrenen Redakteure unter Hochdruck an der Story arbeiteten und unter großem Zeitdruck bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Augenzeugen des Leichenfunds recherchierten, Stimmen und Kommentare einfingen.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Frühjahr 1996 die ersten Eifelkrimis von Jacques Berndorf und Ralf Kramp gelesen habe. Was mich an den Romanen besonders interessierte, der Einzug des Verbrechens in die idyllische Vulkan- und Voreifel, schreckte mich in der Realität ab. Dass tatsächlich „vor meiner Haustür“ eine reale Kinderleiche gefunden worden war, fand ich beängstigend. Dass der Täter vielleicht aus der Nachbarschaft stammte, fand ich verstörend. Vielleicht hat diese Erfahrung später sogar dazu geführt, dass ich mich selbst an einem Kriminalroman versucht habe: Zwischen zwei Buchdeckeln lassen sich Mordfälle leichter verarbeiten. Und im Roman werden sie – im Gegensatz zur Realität – meistens auch aufgeklärt.

Heike Nickel, Redakteurin:

Meine Tochter und ich leben in einem Mietshaus in Oberwichterich. Wenige Tage zuvor haben wir ihren siebten Geburtstag gefeiert, mit einer lustigen Schnitzeljagd quer durchs Dorf und die angrenzenden Felder. Wir wohnen sehr gerne hier in diesem kleinen, etwas mehr als 300-Seelen-Ort. Die einzige Straße ist eine Sackgasse, durch die kaum jemand fährt, den man nicht kennt. Die Kinder von Oberwichterich erleben eine heile Welt, die viele Gleichaltrige nicht mehr kennenlernen dürfen: Sie spielen nicht nur im heimischen Garten, sondern draußen.

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Ohne Aufsicht toben sie herum, jagen mit ihren Rädern durch die angrenzenden Felder, bauen Buden am Bach. Zum Abendessen kommen sie heim, dreckverkrustet und hungrig. Und dann wird an einem Feldrand die Leiche des Mädchens gefunden. Bis in die Nachtstunden leuchten die Scheinwerfer der Spurensicherung durch die Fenster. Was anfangs völlig surreal erscheint, formiert sich zu dem unerträglichen Gedanken, dass der Mörder durch unser Dorf gefahren ist, über unsere Straßen, vorbei an unseren Häusern. Und dass er ein Leben grausam beendet hat, das kaum länger währte als das meiner Tochter. Die heile Welt von Oberwichterich bekommt einen tiefen, verstörenden Riss.

Es dauert seine Zeit, dann ziehen die Kinder wieder alleine durchs Dorf und genießen die Freiheiten des Landlebens. Auch mein Kind ist dabei, aber das verstörende Gefühl, der spürbare Riss, bleibt. Für mich als Mutter wird der Ort nie wieder der sichere Ort, der er einmal war. Zwei Jahre später ziehen wir fort – aus anderen Gründen zwar, aber erleichtert.

Helmut Abels, ehemaliger Polizist

„Ein Anblick, den man nie wieder vergisst“, sagt Helmut Abels. Der Euskirchener Polizist war damals mit seinem Dienstgruppenleiter mit als erstes am Tatort. Der Fall haben die Kollegen in Euskirchen noch lange beschäftigt – auch mental. Zwei Jahre zuvor, 9. März 1994, verübte der 39-jährige Erwin Mikolajczyk ein Bombenattentat aufs Euskirchener Amtsgericht. Sieben Menschen starben. Darunter auch der damals 31 Jahre alte Richter Alexander Schäfer, zwei Rechtsanwälte und der Attentäter selbst. Acht weitere Personen wurden teilweise schwer verletzt. Das Schlimme beim Fall Claudia Ruf? „Das sie noch ein Kind war. Je jünger desto schlimmer“, so Abels. 

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Der Euskirchener Polizist Helmut Abels (l.) war damals als einer der ersten an der Einsatzstelle.

Bernd Zimmermann, damals für die „Kölnische Rundschau“ im Einsatz

Ich war damals durch Zufall an eine spannende Geschichte gekommen. Ein Wohnungsloser hatte einen Streifenwagen gestohlen und hatte damit eine Spritztour gedreht. Die Beamten hatten davon nichts mitbekommen und erfuhren von mir von dem Fall. Plötzlich hieß es, dass eine Kinderleiche bei Oberwichterich entdeckt worden ist. Dann bin ich sofort dahin. Wir haben die Szenerie aus recht großer Entfernung beobachtet.

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Bis dato hatte ich von dem Entführungsfall in Hemmerden noch gar nichts mitbekommen. Irgendwann ist mir dann eingefallen, dass es am Tag des Verschwindens auf der A1 bei Euskirchen ein größerer Unfall war. Mit gesperrter Autobahn. Vielleicht ist der Täter ja von dem Blaulicht aufgeschreckt worden und hat die Autobahn deshalb verlassen. In den folgenden Tagen und Woche, am Ende wurden es sogar Jahre, habe ich den Fall intensiv verfolgt.

Reiner Züll, damals für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Einsatz

Der 13. Mai 1996 war ein Montagnachmittag, an den ich mich auch nach fast 26 Jahren noch so erinnere, als sei es gestern gewesen. Als Polizeireporter des „Kölner Stadt-Anzeiger“ war ich an diesem Nachmittag einer der ersten im Feld bei Oberwichterich gewesen, wo kurz zuvor die Leiche der ermordeten elfjährigen Claudia Ruf aufgefunden worden war. Das Bild der Beamten und des Streifenwagens, der im Getreidefeld neben dem ermordeten Mädchen steht, hat sich fest ins Gedächtnis eingebrannt.

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Die Leiche von Claudia Ruf wurde von einem Spaziergänger bei Oberwichterich entdeckt.

Wir hatten auf der Redaktion unmittelbar nach dem Auffinden der Leiche den Hinweis bekommen, dass im Feld bei Oberwichterich eine Kindesleiche aufgefunden worden sei.  Für uns lag die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Kind um die seit Tagen vermisste Claudia Ruf aus Grevenbroich handeln könnte.

Mit Vollgas ging es in Richtung Oberwichterich, wo bereits am Ortseingang Leute auf der Straße standen, die ebenfalls von dem Fund der Leiche erfahren hatten. Bei der Ankunft an der Fundstelle waren Euskirchener Polizeibeamte gerade dabei, die Gegend um die Fundstelle mit Flatterband abzusperren. In Anbetracht der Tatsache, dass der unbekannte Täter die Kinderleiche, bei der er sich tatsächlich um die vermisste Claudia Ruf handelte, angezündet hatte, waren die Beamten ziemlich aufgebracht, waren sie doch selbst Väter von Kindern. Und auch für mich als Vater eines achtjährigen Kindes war die Situation, die mir die Polizisten schilderten, unfassbar.

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Ein Polizeihubschrauber am Fundort der Leiche von Claudia Ruf.

Innerhalb kürzester Zeit waren Beamte der Euskirchener Kripo und der Bonner Mordkommission vor Ort, ein Polizeihubschrauber kreiste über dem Fundort. Ebenso fassungslos, wie seine Polizeibeamten, war auch Euskirchens Polizeidirektor Karlheinz Kleimann, der ins Feld nach Oberwichterich geeilt war. Ich sehe auch ihn heute noch, als sei es gestern gewesen.

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